Soll man sich als nicht mehr junger - in concreto - alter Mensch öfters eine Ruhepause gönnen?
Warum nicht, das Sofa oder der Lehnstuhl lädt doch dazu ein, es sich bequem zu machen. Es ist ein bekanntes Bild oder Klischee, dass Opa auf dem Sessel sitzend, das Enkelkind auf dem Arm nimmt, es krabbelt auf ihm herum, er freut sich, doch nach kurzer Zeit wird es der Mutter, dem Vater zurückgegeben und diese nehmen ihm es nicht übel, wenn der „Altenteiler“ sich befreit zurücklehnt oder sogar wegschlummert. Die Oma schaut ihn etwas missbilligend an, möchte etwas sagen, aber - wie gesagt - er, in den früheren Zeiten der Ältere, hat sich schon ausgeklinkt.
Mein Opa mütterlicherseits hätte von seiner äußeren Form her gesehen sehr gut in dieses Klischee gepasst, und es gibt auch eine Fotografie von ihm, die diese Bemerkung zu bestätigen scheint. Aber so war es nicht. Seine Frau war - wie auf dem Hochzeitsbild der beiden zu sehen ist - eine stattliche Frau, wie auch er ein stattlicher Mann. Aber im Alter war sie sein Pflegekind geworden. Ich habe sie tatsächlich nur als schwarz gekleidetes Bündel auf seinen Armen gehalten erlebt.
Als diese Hochzeitsaufnahme entstand, war er bei der alt eingesessenen Stuttgarter Möbelfirma Schildknecht als Kunstschreiner tätig, "beschäftigt" wäre das falsche Wort. Ich glaube, der kleine Tisch in unserer Wohnung, auf dessen Fläche ein in Intarsien gebildetes Schachbrett eingelegt ist, war sein Gesellenstück. Und das Wohnzimmer war ganz mit von ihm geschaffenen Möbeln ausgestattet. De facto war es nur ein Durchgangszimmer zu dem eigentlich benutzten Raum, der großen Küche, neben der sich ein Nebenraum mit einem langen Tisch versehen befand. Dieses Haus war eine Reichswohnheimstätte, es entstand in den 1920er Jahren, damals konnte eine junge Familie - zwei Töchter waren ja auch schon da - sich um ein Darlehen bemühen und in eine der errichteten Reichsheimstätten einziehen. Es war die Zeit als die Weimarer Republik noch nicht zerrüttet war, die sozialdemokratisch geführte Regierung die Überwindung der Wohnungsnot sich zur wichtigsten Aufgabe gemacht hatte. Vermutlich ging es auch darum, einen Stand der "kleinen Leute" zu stärken, die treu zur Verfassung und Republik standen. Im Stuttgarter Stadtgebiet gibt es mehrere dieser Siedlungsprojekte.
Besiedelt und bebaut wurde der ziemlich steil abfallende, nördlich gelegene Hang der Feuerbacher Heide, heute der Killesberg. Diese Feuerbacher Heide ist Teil des Hügelrings, der den Stuttgarter Kessel umschließt. Auf den der Innenstadt zugewandten, nach Süden gerichteten Hänge waren vor und nach dem ersten Weltkrieg die Häuser der begüterten Schichten entstanden. Einzelstehende, ansehnliche Häuser, nicht unbedingt Villen wie im Südwesten Berlins, aber eben Häuser, die die Wohlsituiertheit ihrer Bewohner mitteilten. Die Koryphäen der Stuttgarter Architektenschaft, Paul Bonatz und Paul Schmitthenner, die sog. Erste Stuttgarter Bauschule, und ihre Schüler hatten sie geplant.
Ansehnlich waren die Häuser entlang der Wilhelm-Blos-Straße - um die es hier geht - nicht, sondern klein, jedoch urgemütlich. Diese kurze Straße war in das Gelände eingeschnitten worden, und daraus ergaben sich ihre zwei Seiten, den Hang aufwärts eine Stützwand, den Hang abwärts die Reihe der Häuser. Diese hatten wegen dieser Topographie eine Straßenseite einerseits mit einem kleinen Vorgarten mit dem Zaun und - wie bei meinem Opa - einem Kirschbaum. Andererseits - den Hang abwärts - war der Wirtschaftsgarten, man sah in den tiefen Geländeeinschnitt, dort verliefen die Eisenbahngleise vor dem Feuerbacher Tunnel. Es war immer ein Erlebnis den noch mit Dampfloks versehenen D-Zügen nachzusehen.
Zum Projekt der Reichsheimstätten gehörte der für die Eigenversorgung der Bewohner angelegte Wirtschaftsgarten. In der Zehlendorfer Papageiensiedlung befinden sie sich zwischen den Häuserzeilen, für den Zweck aber eher zu klein. Im Fall des Hauses meiner Großeltern war er wegen der Topographie zwar schmal aber langgezogen. Von der tieferen Häuserzeile sah man nur die Dächer.
Daraus ergab sich eine Dreistöckigkeit. Von der Straße betrat man das Erdgeschoss mit der bereits erwähnten guten Stube, der Küche und dem schmalen Nebenraum. Von der Eingangstür ging es hinauf in die Schlafstuben, sowie in den Keller hinunter. Der Keller war zweigeteilt, am Fuß der Treppe der fensterlose Raum, in dem eine Versenkung sich befand, dort stand ein gar nicht so kleines Fass! Waren meine Großeltern etwa Leute, die ohne einen Schoppen nicht auskamen? Oder war das Fass für die selbsthergestellten Säfte vorgesehen? Ich weiß es nicht, zu meiner Zeit war das Fass nicht mehr im Gebrauch.
Vom zweiten Kellerraum mit den Gartengeräten und der Hobelbank aus öffnete sich die Tür zum Wirtschaftsgarten. Weil er ziemlich steil abfiel, hatte mein Opa Terrassen angelegt. Ich denke, es waren mindestens fünf, und dort blühte und reifte alles, was man essen kann. Eine nicht ganz delikate hauswirtschaftliche Maßnahme bestand darin, dass alles, was nach dem Essen übrigbleibt, in den Garten befördert wurde. Ich wüsste nicht, dass es in diesem Idyll eine Abfalltonne oder viel Wasserverbrauch gegeben hätte.
Zur Finanzierung gehörte auch die Vermietung einer der Stuben, meistens an Kunststudenten der Akademie oben auf der Höhe. Wie eines Tages der Herr, mein Vater, Untermieter wurde und eine der Töchter entführte.
Der Vorname meines Großvaters war Florian und sein Nachnahme Ott. So wurde fast zwangsläufig Flott daraus. Es muss da etwas von seinen Eltern her gekommen sein. Denn im 19. Jahrhundert einen Sohn nicht Heinrich, Wilhelm oder Rudolf zu nennen, war schon ungewöhnlich. Aber flott zu sein, war ihm ja als Hausmann nicht (mehr?) gegeben. Er war in der Küche tätig, während mein Bruder und ich im Nebenraum saßen und inspizierten, was sich in den Schubladen des langen Tisches befand.
Das - wie gesagt - Idyll endete, als meine Großmutter nicht mehr weiterleben musste. Mein Opa sagte damals seufzend: jetzet kann i au nomol a bissle läbe. Aber diese geschenkte Zeit dauerte nur ein Jahr.
Ich habe einmal einer finnischen Erzählung zugehört. Der Erzähler war der stummste unter den finnischen Gästen, er fiel aber durch seinen Anzug auf, der war nämlich ockerfarben und mit großen brauen Karreestreifen versehen. Er ist ein Karelier, meinte Jyrki geheimnis- wie bedeutungsvoll. Seine - besser unsere - Sternstunde kam, als er nach dem Abendessen von seiner Heimat zu erzählen begann. Karelien, das muss man wissen, ist das östlichste Gebiet Finnlands, dort wo man oft nicht weiß, ob man auf einem Meer mit Inseln oder auf dem Festland mit weiten und weit verzweigten Seen sich gerade befindet.
Noch weiter östlich ist Karelien etwas höher gelegen und dort befinden sich die Bauernstellen, für jeden Zweck ein einzelnes Gemäuer oder eine Hütte. Dies rund um das hölzerne Wohnhaus gruppiert. Um dieses und um seine Großmutter ging es ihm. Vor allem drehte sich seine Erzählung um einen Schemel, auf den die Großmutter ihre Füße stellte. Die Hauskatze wollte gerne mit der Großmutter flirten. Doch sie war oft eingeschlummert, und so musste die Katze sich damit bescheiden, mit dem Schemel zu flirten. Dies immer an der selben Kante des Schemels, und diese war schon ganz abgewetzt, angegraut, weil die Katze immer wieder mit ihrem Rücken an ihr entlang gestrichen war. So viel habe ich über die Geschichte, der alle aufmerksamst zu hörten, denn ich war nur über die Zuflüsterungen von Ritwa beteiligt.
Woran dachte oder träumte die Großmutter derweil? Vielleicht daran, dass in ihrer Jugend die herumwandernden Kalewala - Sänger in der dunklen Winternacht die Familie besucht hatten. Es waren immer zwei. Und der eine stimmte die erste Strophe an: ich hörte sagen, dass ..... Und der andere sagte nicht etwa etwas anderes, oder setzte die Geschichte fort, sondern er wiederholte, was der erste Sänger gesagt hatte, ja, ich hörte sagen, dass.... Dann stimmte der erste wieder ein, und es kam etwas folgendes hinzu. Das wurde wiederum wiederholt und so ging es immer weiter. Mehr als 20.000 Doppelstrophen hat der Lehrer Lönrott gesammelt!
Nun das ist ein schönes Bild über die Gemächlichkeit. Und umso mehr, weil die finnische Sprache so vokalisch ist und nicht flüchtig, sondern mit Nachdruck gesprochen wird.
Jeder hat in der Jugend so sein Karelien gehabt. Und wie ist es im vorgerückten Alter?
Dazu machen wir einen Sprung nach Weimar. Goethe hatte den jungen Eckermann zu Gast, wie jede Woche, um so allerlei zu besprechen über die Ausgabe seiner Werke „letzter Hand“. Weiß man eigentlich, dass der Faust II auf das Bitten und Drängeln Eckermanns zurückzuführen ist?
Im Moment geht es aber nicht um den Kaiser, Helena und weitere, sondern um ein Gespräch zwischen Goethe und Eckermann am 25. März 1831. Die beiden stehen im karg möblierten und engen Arbeitszimmer des von Eckermann verehrten Meisters. Dieser fragt ihn, haben Sie schon bemerkt, dass in diesem Zimmer keine Ruhebank vorhanden ist?
Ob Eckermann es schon bemerkt hatte, teilt er nicht mit, nur dass sich das folgendes Gespräch entspann, bzw. was Goethe zu Raum und sein "Ich" darüber mitteilt.
"Goethe zeigte mir einen eleganten grünen Lehnstuhl, den er dieser Tage in einer Auktion sich hatte kaufen lassen. Ich werde ihn jedoch wenig oder gar nicht gebrauchen, sagte er, denn alle Arten von Bequemlichkeit sind eigentlich ganz gegen meine Natur. Sie sehen in meinem Zimmer kein Sofa, ich sitze immer in meinem alten hölzernen Stuhl und habe erst seit einigen Wochen eine Art von Lehne für den Kopf anfügen lassen. Eine Umgebung von bequemen geschmackvollen Meublen hebt mein Denken auf und versetzt mich in einen behaglichen passiven Zustand. Ausgenommen, dass man von Jugend auf daran gewöhnt sei, sind prächtige Zimmer und elegante Hausgeräte etwas für Leute, die keine Gedanken haben und haben mögen".
Nun sind wir, mein Opa und ich, verwirrt! Hat er, der ein nicht gerade kleines Anwesen am Frauenplan in Weimar erworben hatte, indem er seine zahlreichen Gäste doch in einem gewissen Prunk bewirtete, dieses gering gesehen, und dementsprechend die karge Kammer für sein eigentliches Geschäft vorgesehen? Jedenfalls hat er der Versuchung der Bequemlichkeit widerstanden! Was - so Eckermann - er sich gemerkt habe!
Wohnung als philosophischer Begriff genommen ist somit etwas doppeltes, auf der einen Seite das Äußere, das Respektable in Ansehung der gesellschaftlichen Stellung, die Schein ist, und eine gewisse oder mögliche Form verlangt, das Zimmer, indem man mit Anderen kommuniziert. Auf der anderen Seite die Kammer, die für das Für sich Sein steht. Blaise Pascal hat ja diesen Satz geschrieben, dass das Elend der Welt darauf zurückzuführen ist, dass der Mensch seine Kammer verlässt.
Ein Beispiel für diese Dualität ist der Roman "Mannequin d´osier", die "Schneiderpuppe", von Anatole France. Der angesehene Lehrer für Latein Lucien Bergeret lebt in einem ansehnlichen Haus mit seiner Frau und drei Töchtern, die sich im "heiratsfähigen Alter" befinden. Weder in der Schule noch zu Hause fühlt er sich behaglich. Seinen Schülern die für ihn so bedeutungsvolle antike Literatur nahe zu bringen, stößt auf deren beharrliches Desinteresse, sie zu alluminieren ist ihm unmöglich. Und zu Hause dreht sich alles um die Konventionen und aufgeregte Schicklichkeit eines angesehenen Haushalts. Warum er sich schließlich in seine Kammer zurückzieht, einen neuen Standort sich schafft, wird nicht verraten, es ist eine typisch französische Geschichte.
Diese Kammer ist nur ein Verschlag unterhalb der Treppe, dort wo die besagte Schneiderpuppe und anderes Haushaltsgerät untergebracht sind.
Sein zweiter Standortwechsel sind die Ramparts, die Festungswälle, auf denen er spazieren geht und dabei Partien der Aeneis überdenkt. Dort trifft er auf Pied d´Alouette, den Stadtvagabund, der wie eben eine Lerche auf freiem Fuß lebt. Man unterhält sich, was gerade so ansteht. Da es bald winterlich sein wird, berichtet sein Gesprächspartner über einige kleine Diebstähle, die er - wie jedes Jahr - begeht, um dann in einer Zelle des Stadtgefängnisses bis zum Frühling zu überwintern. M. Bergeret gibt ihm Recht, worauf ihm geantwortet wird: Ach, Sie haben es gut, ein schönes beheiztes Haus, weiche Betten, gute Mahlzeiten, eine liebenswerte Gattin, reizende Töchter, die gekonnt am Klavier fantasieren, deren schicke Verehrer, die aufmerksam Ihren Bemerkungen über das traurige Schicksal der verlassenen Dido lauschen, und was noch mehr.
Worauf ihm geantwortet wird: Mein Lieber, Sie glauben, dass das Glück unter dem Dach eines schönen Hauses wohnt? Ich dachte bisher, dass Sie viel klüger sind.
Schade eigentlich, dass es keine Philosophie der Wohnung gibt. Es müsste doch eine wichtige Frage sein, wie die Wohnung, dort, wo wir mehr als zwei Drittel unserer Zeit verbringen, ihre Bewohner "konditioniert".
PS
Wir, eine Gruppe von Stipendiaten der (Stuttgarter) Robert-Bosch-Stiftung, befanden uns in einem Besprechungsraum des Collége de France am Voltaire-Ufer und lauschten den Erörterungen der Nachfolgerin von Claude Lévi-Strauss, als die Tür aufging und ein Clochard hereintrat, zerschlissener Anorak, löchrige jeans, zertretene Schuhe und eine Plastiktüte. Der Assistent wollte ihn zurückhalten, aber der Besucher sagte etwas Unanständiges und setzte sich auf seinen Stuhl neben Madame. Ab und zu verneinte er, was sie vortrug. Sie nahm es gelassen. Später stellte sich heraus, wer er war. Nôtre ami, l´ancien professeur du Collége de France et collègue de Claude. Viel hat er sich genommen und war ihm genommen worden, als er sich entschlossen hatte, die Ethnologie der Unbehausten zu erleben, aber das Recht, zu seiner früheren Wirkungsstätte zu kommen, ist ihm geblieben, sagte sie. Nachdenklich und im Bewusstsein der Lebensrisiken, dem möglichen Verlust des Behaust Seins, sind wir weitergezogen.
Unser Pied d´Alouette hieß Herr Bartosch, er gärtnerte da und dort, die verwilderten Hecken konnte er so akkurat stutzen, wie kein anderer. Unser Viertel war in den siebziger und achtziger Jahren im demographischen Umbruch, und daher war er bei den Witwen als Gartenpfleger willkommen und tüchtig beschäftigt. Nach der Arbeit saßen wir, die Kleinfamilie mit unserem sechsjährigem Sohn und unserer Katze, auf der Terrasse und lauschten seiner Geschichte, wahr oder nicht wahr, das war gleichgültig. Er war der Meinung, dass in seinem Blut sich Fremdkörper befinden, die er sich in einer Malaria verseuchten Sumpfgrube im Arbeitsdienst zugezogen hatte. Zum Beweis hatte er im Gesicht und an den Armen große Pflaster aufgeklebt. Das Tropeninstitut war der Meinung, dass ihm nicht zu helfen sei.
An einem sehr dunklen, regnerischen Spätabend schaute ich von oben aus dem Fenster in den Garten und sah herumwandernde, weiße Fensterrahmen. Doch sehr verstört, konnte ich mir das Phänomen nur so erklären, dass Einbrecher tätig wären, und so rief ich die Polizei, die auch in Mannschaftsstärke in einem Bully anrückte, und einer von ihnen löste sogar eine Pistole aus dem Halfter. Nun muss man wissen, dass unser Garten von einem gartenseitigen, inneren Weg erschlossen wird. Den - so schlug ich vor - sollten wir nehmen. Und wer kam uns entgegen?
Herr Bartosch. Er war nämlich damit beschäftigt, in unserem Garten aus Fenstern eines Abrisshauses ein kristallines Glashäuschen zu errichten. Und warum? Es war sein Geschenk anlässlich des Geburtstages unseres Sohnes, das muss in der Nacht vom 26. zum 27. Mai gewesen sein, in welchem Jahr habe ich allerdings vergessen.
Die Polizisten meinten, meistens sind es schlimme Ereignisse, wenn wir gerufen werden. Da kommt uns, die wir die ganze Nacht im Dienst sind, eine so vergnügliche Sache richtig gelegen.
Wer erinnert sich an das Glashäuschen, das als Manifest für die neueste Architekturauffassung auf der Werkbundausstellung in Köln (1911?) dem staunenden Publikum präsentiert worden war? Herr Bartosch konnte das auch, in jedem von uns steckt ein Architekt, der die Hülle des Wohnens nicht nur braucht, sie konstruiert, sondern diese in seiner Seele begehrt.
Mai 2023
rderenbach@gmx.de