Wie schöne Städte entstanden sind Schöne Landschaften und ihre Geschichte
Wie schöne Städte entstanden sindSchöne Landschaften und ihre Geschichte

Mühlhausen in Thüringen - Königspfalz und Stadt früher bürgerlicher Emanzipation

Was könnte die thüringische Stadt Mühlhausen mit Quedlinburg gemeinsam haben? Eines auf jeden Fall: Es sind besonders schöne Städte mit einem weitgehend erhaltenen historischen Stadtbild und es sind Städte, in denen sich für unser Land wichtige historische Ereignisse abspielten. In ihrer topographischen und städtebaulichen Anlage weisen sie viele Gemeinsamkeiten auf. Beide liegen an einem Fluss, der Bode bzw. der Unstrut, umgeben von einer Tal- und Hügellandschaft. In beiden Städten prägen die Fachwerkhäuser des 16. und 17. Jahrhunderts und spätere barocke Bürger- und Amtshäuser das Stadtbild. Während in Quedlinburg das Stift die beherrschende landmark darstellt, sind es in Mühlhausen zwei spätgotische Hallenkirchen von einer ganz außergewöhnlichen Architektur und einer fast kathedralen Erscheinung: St. Marien und St. Divi Blasii.

 

Quedlinburg und Mühlhausen sind von den deutschen Königen aus sächsischem Geschlecht im 10. Jahrhundert gegründet worden. Die Reichsunmittelbarkeit zu erhalten, war für beide Städte bis 1803, als sie im preußischen Staat aufgingen, das wichtigste Ziel ihrer Politik. In ihrer rechtlichen Stellung unterscheiden sie sich jedoch. Während Quedlinburg ein Reichsstift unter der Herrschaft hochadliger Damen blieb, wurde Mühlhausen im 13. Jahrhundert eine freie Reichsstadt mit stadtbürgerlicher Selbstverwaltung. Die - mit Blick auf die ständigen politischen Turbulenzen im staatlich zersplitterten Deutschland - fast schon idyllisch zu nennende Geschichte Quedlinburgs hat Mühlhausen - wie jetzt zu zeigen ist - jedoch nicht erlebt.

 

Die Entstehung als Königsgut und Pfalzort

 

Die Existenz Mühlhausens wurde zuerst 967 als Königsgut im Besitz Ottos II. später seiner Gattin, der byzantinischen Prinzessin Theophanu, urkundlich bezeugt. Im 11. Jahrhundert wurde das Königsgut zur Pfalz ausgebaut, also zu einer jener Burganlagen, die den herumreisenden Königen und ihrem Gefolge zum Aufenthalt dienten und in denen die Hoftage, die Versammlung der Reichsfürsten, abgehalten wurden. Sie wurden von ortsansässigen königlichen Beamten, den Ministerialen, verwaltet. Neben dem Gut und in seinem Schutz waren schon zu dieser Zeit erste Ansätze einer Markt- und Gewerbesiedlung entstanden.

 

Wie die Stadt aus ihrem ersten Siedlungskern, dem ottonischen Königshof, heraus wuchs, lässt sich nur noch aus der Anordnung des heutigen Stadtgrundrisses und durch Analogien zu anderen Pfalzen erschließen. Man geht davon aus, dass der Gutshof in der Flussniederung zwischen dem Mühlgraben und der Unstrut lag, also am nordöstlichen Rand außerhalb der heutigen Innenstadt, heute Altenmühlhausen genannt. Die Pfalzburg wurde westlich des Mühlgrabens auf dem dort ansteigenden Gelände errichtet, bis heute ist ihr Standort als Einbuchtung am nordöstlichen Rand der Stadtmauer zu erkennen. Westlich davon befand sich die Pfalzkirche, deren Fundamente unter der im 14. Jahrhundert errichteten heutigen Marienkirche nachgewiesen wurden. In weiterer Verlängerung dieser Achse, am heutigen Platz Blaloch, befand sich die nicht mehr bestehende kleine Johanniskirche. In der langgestreckten Anlage vor den Westtürmen der Marienkirche dürfte es sich um eine hochmittelalterliche via triumphalis handeln, d.h. um den platzartigen Weg, auf dem sich die Teilnehmer der Hoftage versammelten, um in feierlicher Prozession in die Pfalzkirche einzuziehen.

 

Dass Mühlhausen ein wichtiger Pfalzort war, lässt sich an der Zahl der nachgewiesenen Besuche der Könige und Hoftage erkennen. Otto III. war mindestens dreimal und Heinrich II. sieben Mal in Mühlhausen. Als jedoch 1024 der letzte König aus sächsischem Geschlecht, Heinrich II., gestorben und die Königswürde auf das fränkisch-salische Geschlecht (mit dem Zentrum Speyer) übergegangen war, wurden Mühlhausen und die anderen zahlreichen Königsgüter im Harzgebiet und in Thüringen von den sächsischen Herzögen beansprucht. Zum ersten Mal geriet Mühlhausen damit in den Macht­konflikt zwischen der Reichsautorität und den Landesherren, die auf ihre territoriale Eigenständigkeit pochten. Er sollte das ganze Mittelalter andauern und bei ständig wachsender Schwächung der Reichs­macht schließlich zur staatlichen Zersplitterung in Deutschland führen.

 

Die salischen Könige betrachteten die ottonischen Güter als Reichsland und daher ihrem Regiment unterworfen. Aber es ging ihnen weniger um die Verteidigung von Rechtstiteln als um die Möglich­keit im politisch sensiblen Gebiet um den Harz und vor den Toren der sächsischen Rivalen politischen Einfluss ausüben zu können. Nachdem zunächst die Territorialfürsten die Oberhand behielten, wurde der Konflikt um den doppelten Besitzanspruch 1075 - nicht weit von Mühlhausen entfernt - militärisch zugunsten des Königs entschieden. Durch diese Wiederinbesitznahme, die Heinrich IV. durch den Bau von Burgen und den Einsatz von stammesfremden Ministerialen sicherte, blieb die Reichsunmittelbar­keit Mühlhausens erhalten. Dieser Vorgang, den die Historiker „Rekuperation“ nennen, sollte sich in Mühlhausen noch mehrmals wiederholen. In der Pfalz fanden danach weitere wichtige Hoftage statt. So war der Hoftag von 1135 von reichspolitischer Bedeutung, denn damals unterwarf sich der Gegen­könig Konrad König Lothar. 1198 huldigten in Mühlhausen die Fürsten dem neuen König Philipp von Staufen. Mit der staufischen Herrschaft (seit 1138 bis 1254) zogen jedoch wieder dunkle Wolken auf. Dieses zeigte sich zum ersten Mal in Gestalt des sächsischen Herzogs Heinrich der Löwe, der - wie in Halberstadt und in anderen Städten - versuchte, konkurrierende Souveränitäten zurückzudrängen. Auch das königliche Gut Mühlhausen war davon betroffen.

 

Der Ausbau Mühlhausens zur Gewerbe- und Handelsstadt unter königlicher Regie

 

Im 12. Jahrhundert war Mühlhausen - begünstigt durch seine Lage am Kreuzungspunkt wichtiger Handelswege - zu einer bedeutenden Handels- und Gewerbestadt geworden. Dabei spielten die Vortei­le der Reichsunmittelbarkeit (vor allem die Unabhängigkeit gegenüber den ständig rivalisierenden Territorialherren) eine wichtige Rolle, denn daraus ergaben sich Vorteile für den Fernhandel. Über­haupt war dies eine Zeit des demographischen wie wirtschaftlichen Aufschwungs. In allen Teilen des Reiches wurden Wälder gerodet, Sumpf- und Heideflächen urbar gemacht und die Technik der Land­wirtschaft verbessert (die bewegliche Deichsel, wirkungsvollere Pferdegeschirre und Werkzeuge für die Bodenbearbeitung). Davon ging die Belebung des Handels und der Handwerke aus und daraus folgte wiederum der Aufstieg der Städte. Die salischen und staufischen Könige förderten diese Ent­wicklung, auch weil sie sich davon ein Gegengewicht gegen den feudalen Partikularismus versprechen konnten.

 

Wie bereits erwähnt waren neben dem Königsgut weitere Siedlungskerne als Handelsnieder­lassungen entstanden. Aus diesen Anfängen wuchsen nun in der Niederung unterhalb der königlichen Oberstadt neue Quartiere und an den Kreuzungen der Handelswege neue Marktplätze. Aus dem ersten Stadtsiegel lässt sich erschließen, dass Mühlhausen zu Beginn des 13. Jahrhunderts von einer Stadtbe­festigung, entsprechend dem Verlauf der späteren inneren Stadtmauer, umgeben war, die nun den Pfalz- und den Marktort zusammenfasste.

 

Der Ausbau und damit die Konsolidierung als Königs- und Handelsstadt geschah noch unter der Regie der ministerialen Verwaltung, also der Autorität und Förderung des Königs. Aber schon damals muss es eine politische Beteiligung der stadtbürgerlichen Seite gegeben haben. Dies ergibt sich aus dem Mühlhäuser Stadtrechtsbuch nach des Reiches Recht, das älteste in deutscher Sprache (um 1220). So war die hohe Gerichtsbarkeit zwar Sache der Ministerialen, die niedrigere Gerichtsbarkeit aber lag bei der Bürgerschaft, die dementsprechend schon damals ein Gemeinschaftsbewusstsein und eine innere Organisation erreicht haben musste.

 

Mühlhausen im Übergang von der Stadt des Königs zur freien Reichsstadt

 

1256 zerstörten die Bürger die königliche Burg vollständig. War dies die Gewalttat einer Schicht von aggressiven Aufsteigern gegen die alte Ordnung oder ein Akt des Selbsthelfertums in einer für die rechtliche und materielle Eigenständigkeit der Stadt bedrohlichen politischen Lage? Diese Frage ist nur mit Blick auf die damalige politische Situation im Reich zu beantworten. Wie schon erwähnt waren Rechtstitel nur so viel wert wie die militärische Macht zu ihrer Durchsetzung beitrug. Heinrich IV. hatte 1075 die Königsmacht im Harz und in Thüringen und Friedrich I. Barbarossa 1180 im ganzen Reichsgebiet wieder hergestellt. Durch die Verstrickung der nachfolgenden Stauferkönige in die Machtkämpfe in Italien war jedoch eine Reichsautorität im nordalpinen Teil des Imperiums kaum mehr vorhanden und dies galt nach dem Zusammenbruch der Stauferherrschaft 1254 und während des anschließenden Interregnums bis 1273 noch viel mehr.

 

Für die immer landhungrigen Fürsten bot das Machtvakuum die Möglichkeit, Königsland in ihren Besitz zu bringen, die sie auch mit militärischen Mitteln zu nutzen suchten. Mühlhausen und die anderen Reichsstädte im Harzgebiet wie Nordhausen, Eschwege und Goslar wurden zum Ziel ihrer Angriffe. Die äußere Bedrohung verursachte einen inneren Konflikt zwischen den Ministerialen, die ihre aus dem Königtum abgeleitete soziale Stellung und Stadtherrschaft verteidigen wollten, und der Bürgerschaft, der es auch um die Eigenständigkeit ging, diese aber gerade durch die Anwesenheit der Vertreter des Königs am stärksten gefährdet sah. In ihrer Sicht war somit die Zerstörung der Burg ein (sicherlich riskanter) Befreiungsschlag, der sich aber tatsächlich auszahlen sollte. Die Verteidigung der vorteilhaften Reichsunmittelbarkeit lag danach in der Hand der Bürgerschaft.

 

Als mit der Wahl Rudolf I. von Habsburg das Interregnum beendet war, musste die Stadt einen Ausgleich mit der wieder erstarkten Reichsmacht finden. Rudolf als Realpolitiker nahm den Besitz des Königslandes wieder in Anspruch (eine erneute, die zweite Rekuperation). Als Realpolitiker mit geringen Interessen nördlich des Mains sah er jedoch in Städten wie Mühlhausen keine bedeutende geostrategische Bedeutung mehr, sondern konzentrierte sich darauf, seine Rechte zu Geld zu machen. Man würde heute sagen, das Tafelsilber zu verscherbeln. Er verzieh den Bürgern von Mühlhausen die Zerstörung der Burg, verzichtete aber nicht auf seine Rechte, so insbesondere jenes, die Stadt verpfän­den zu können.

 

Der Wohlstand Mühlhausens erwies sich in dieser Lage als das eigentliche Pfund, mit dem man wuchern konnte. Eines nach dem anderen der Regalien, d.h. den königlichen Rechten, wurde durch Zahlungen abgelöst und zudem Land um die Stadt (22 Dörfer und zwei Klosterbezirke) erworben. Diese Konsolidierung aufgrund nun stadtbürgerlicher Anstrengung zog sich mehrere Jahrzehnte hin. Aber danach konnte sich Mühlhausen mit vollem Recht als „freie“ Reichsstadt bezeichnen, eine der wenigen in Norddeutschland. Mühlhausen war nun ein kommunaler Kleinstaat mit umfassender Selbstverwaltung und eigener Außenpolitik (Beitritt zum rheinischen Städtebündnis) unter dem Schutz der Reichsunmittelbarkeit.

 

Die Stadt war in vielerlei Hinsicht auch sozial moderner als die umliegenden Feudalstaaten. So gab es keine Leibeigenschaft, eine Form der Unterdrückung, die in den deutschen Fürstenstaaten noch Jahrhunderte beibehalten wurde (erst 1777 wurde sie in der Markgrafschaft Baden zum ersten Mal abgeschafft). Sicher war das mittelalterliche Mühlhausen nicht demokratisch. Das Patriziat (die reichen Tuchschneider / Kaufleute, die verbürgerlichten Familien der Ministerialen, zugewanderte Familien des niedrigen Adels und die Mitglieder des Deutschen Ordens) bestimmten die Stadtpolitik durch den Rat. Die Mitglieder der anderen Zünfte besaßen zwar das Bürgerrecht aber keine politische Mitsprache. Die übrigen Einwohner wurden als „Mitwohner“ ohne bürgerliche Rechte betrachtet, gleiches galt für alle Frauen.

 

Das mittelalterliche Stadtbild

 

In der folgenden Blütezeit Mühlhausens entstand das vieltürmige Stadtbild mit seinen zahlreichen Kirchen, Klöstern und der mächtigen Stadtmauer, wie man es heute noch im Wesentlichen erleben kann. Der Ausbau der Stadtmauer mit Türmen und Wehrgängen und der Bau einer zweiten äußeren Mauer und der Neubau der Großkirchen St. Marien und St. Divi Blasii beweisen am deutlichsten wie reich Mühlhausen war. Man mag allerdings enttäuscht sein, in Mühlhausen kein repräsentatives Rat­haus mit Schaufassade und einem Rolandstandbild als Symbol städtischer Eigenständigkeit vorzufin­den. Das Rathaus in Mühlhausen ist ein bescheidener, immer wieder erweiterter Bau, nicht an einem der Marktplätze gelegen sondern im Häusergewirr versteckt. Aber in seinem Innern verbergen sich große Schätze. So vor allem der Ratssaal und das reichsstädtische Archiv. 1990 stand ich im Archiv und der damalige Stadtarchivar winkte mich herbei und zeigte mir einen Brief Johann Sebastian Bachs, der 1707 und 1708 Organist an der Kirche Divi Blasii war. Ich durfte den Brief in die Hand nehmen, ein unvergesslicher Augenblick.

 

Nicht nur Sparsamkeit und die hohen Kosten der Stadtbefestigung sondern auch politische Vorsicht mögen den Verzicht auf ein stattliches Rathausgebäude begründet haben. Es galt ja, die Begehrlichkeit der benachbarten Fürsten, des Mainzer Erzbischof im Eichsfeld und in Erfurt, des hessischen Landgra­fen, der Welfen in Braunschweig, des Kurfürsten und des Herzogs von Sachsen, nicht zu provozieren. Auf den Schutz des Königs war ja oft wenig Verlass. Aus dieser politischen Rücksichtnahme heraus dürften auch die übergroßen Porträts der genannten Reichsfürsten im Rathaussaal entstanden sein.

 

Die beiden wichtigsten Kirchen, St. Marien und St. Divi Blasii, waren Pfarrkirchen des Deutschen Ritterordens, dem durch königliches Lehen die Pfarrherrschaft übertragen worden war. Die beiden spätgotischen Kirchen allein sind eine Reise wert, auch weil sie ein ästhetisches Problem der Hallen­kirchen, das übergroße Dach, durch Ziergiebel auf elegante Weise überspielen. Einmalig ist die Gale­rie der kaiserlichen Hoheiten, vermutlich Karl IV. und seiner Gemahlin, über dem südlichen Portal des Querschiffs der Marienkirche. Auch hier dürfte ein stadtpolitischen Kalkül ausschlaggebend gewesen sein im Sinne eines steinernen Zeugnisses der Reichstreue und des von der Reichsunmittelbarkeit erhofften Schutzes.

 

Die Auswirkungen der Reformation und des Thüringer Volksaufstands

 

Aus der großen Zeit Mühlhausens ist wenig über herausragende Persönlichkeiten bekannt. Die große Leistung der Menschen jener Zeit, die Umwandlung der ursprünglichen Naturlandschaft in eine für den Menschen bewohnbare Kulturlandschaft, lässt sich nicht "personifizieren", ein Ansinnen, das den Menschen jener Zeit im Übrigen vermutlich als sehr fremdartig erschienen wäre. Nur Kristan von Samland (1395 gestorben) bildete eine Ausnahme, weil er die höchste Position des Deutschen Ordens, die des Hochmeisters, einnahm und in den Verhandlungen mit der Reichsautorität viel für die rechtli­che Stellung seiner Heimatstadt erreicht hat.

 

Im 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Humanismus, der Reformation und des erwachenden Individualismus war dies ganz anders und daher muss man die Geschichte der Stadt in den überaus dramatischen Jahren der sozial wie religiös motivierten Konflikte von 1523 bis 1525 doppelt schreiben: Als lokale Geschichte: Die Geschicke der Stadt unter den Bedingungen der weite Teile Deutschlands erfassenden Erhebung des Bauernkriegs und dessen Niederschlagung durch die Fürsten am 15. Mai 1525 bei Frankenhausen und der nachfolgenden Strafaktion gegen die Stadt. Und darin eingebettet: Mühlhausen als Lokalität, in der sich die letzte Phase des erbitterten Streites von bis heute erregender Dramatik zwischen Thomas Müntzer und Martin Luther vollzog. Durch die mit dem Namen Müntzer verbundenen Ereignisse wurde Mühlhausen zu einem der herausgehobenen "Schauplätze, auf dem das Spiel unserer Geschichtlichkeit vor sich geht" (Kant).

 

Die zunehmende „Bedrückung des gemeinen Mannes“ durch die weltlichen wie kirchlichen Lan­desherren und Grundherrschaften (und in den Städten durch das Patriziat) hatte verschiedene Ursa­chen: der wirtschaftliche Niedergang, die Auswirkungen eines ersten Industrialisierungsschubs zu Lasten der selbständigen Handwerker der Zünfte wie die frühabsolutistische, auf militärische Macht und den persönlichen Eigennutz ausgerichtete Politik der weltlichen wie kirchlichen Obrigkeit, die eine verschärfte Leibeigenschaft durchsetzen wollte. Hinzu kamen die Missstände einer verweltlichten Kirche. Aufstände gegen die spätmittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse hatte es schon im 14. Jahr­hundert gegeben, die aber lokal begrenzt geblieben waren. Neu war die überregionale Dimension der Aufstände, die im Südwesten, Franken und Thüringen ausbrachen. Beteiligt waren nicht nur die „Bauern“, also die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch Stadtbewohner und Teile der Ritterschaft. In diese Zeit fällt auch der Beginn der Reformation (1519 Martin Luthers 95 Thesen gegen den Ablasshandel).

 

Im August 1523 war es auch in Mühlhausen als Folge der Predigten des aus Mühlhausen stammen­den Mönchs Heinrich Pfeiffer zu Auseinandersetzungen zwischen Patriziat und der Stadtbevölkerung gekommen. In diesem Jahr war Thomas Müntzer, der in Stolberg im Südharz geboren und in Quedlin­burg aufgewachsen ist, in Allstedt, einer kleinen Ackerbürgerstadt im kursächsichen Teil des Südhar­zes, als Prediger tätig. Er war studierter Theologe, Mitstreiter, später erbitterter Gegner von Martin Luther. Beide wollten die Erneuerung der alten, weltlich gewordenen Kirche, jedoch mit unterschiedli­chen Konsequenzen.

 

Luther vertrat die Theorie der zwei Reiche oder "Regimente", wonach der Mensch einmal der reli­giösen Welt zugehörig ist, zum anderen dem des weltlichen Regiments, „welchs den Unchristen und Bösen wehret, dass sie äußerlich müssen Fried halten und still sein ohn ihren Dank“ (Zitat aus der 1523 erschienenen Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“). Man hat diese Schrift als Konzession an die Fürsten, konkret an den sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise interpretiert, unter dessen Schutz Luther sich befand und der ihm ermöglicht hatte in Witten­berg eine wachsende Anhängerschaft um sich zu sammeln. Es war Luthers realpolitischer Ansatz, die Kirche nicht gegen sondern mit den Fürsten, die dazu bereit waren, zu erneuern. In den Aufständen, deren Anführer sich auf ihn beriefen, sah Luther eine Gefährdung seines Ziels der religiösen und kirchlichen Erneuerung.

 

Müntzer, der in Zwickau das Ausmaß der „Bedrückung des gemeinen Mannes“ erlebt hatte, wollte ganz im Sinne Luthers auch - und in erster Linie - die Erneuerung der Kirche aber darüber hinaus auch die der gesellschaftlichen Verhältnisse. Er verlangte daher, dass „einer selbstgefälligen, tyrannischen und gottlosen Obrigkeit“, die nicht wohl will und nicht daran arbeite, das Reich Gottes auch auf dieser Welt zu verwirklichen, das „Schwert zu entwinden sei.“ In Allstedt schrieb er noch vor Luther eine deutsche Liturgie, und predigte im Sinne seiner Theologie „von unten“, geriet aber zwangsläufig dadurch in Gegnerschaft zu dem Grafen Ernst von Mansfeld, der den Bergleuten des mansfeldischen Reviers die Teilnahme an den Predigten Münzers verboten hatte.

 

Kurfürst Friedrich der Weise ließ ihn zunächst gewähren, es kam selbst zur sogenannten Fürstenpredigt vor dem kursächsischen Mitregenten und dem Kurprinzen. Aber auch vor den ja zunächst gesprächsbereiten Landesherrn vertrat er seine Auffassungen gegen die übelwollende Obrigkeit in einer provozierenden Schärfe und verbaute sich damit die Möglichkeit, Allstedt zu einem Gegenpol zu Wittenberg zu machen. Es mag ein Widerhall der Fürstenpredigt gewesen sein, wenn der todkranke Kurfürst im April 1525 folgendes schrieb: „Vielleicht hat man den armen Leuten zu solchem Aufruhr Ursache gegeben und besonders in der Verbiegung des Wort Gottes. So werden die Armen in vielerlei Weise von uns, weltlichen wie geistlichen Obrigkeiten, beschwert. Gott wende seinen Zorn von uns“. Aber dazu, wie denn der Zorn Gottes abzuwenden sei, hat er sich nicht geäußert.

 

Seit August 1524 war Müntzer ein politisch Verfolgter und als solcher kam er zum ersten Mal für kurze Zeit nach Mühlhausen. Es gelang zu diesem Zeitpunkt dem Rat der Stadt, ihn und Heinrich Pfeiffer aus der Stadt zu drängen. Als um die Jahreswende 1524/25 die Unruhen sowohl in Süd­deutschland, in Franken und in zahlreichen Städten nördlich des Mains in voller Stärke ausgebrochen waren, kam zunächst Pfeiffer und im Februar 1525 Müntzer nach Mühlhausen zurück. In diesen wenigen Wochen zwischen Februar und Anfang Mai 1525 wurde aus dem Prediger oder dem „Erzteufel von Mühlhausen“ (Luther in seiner erbarmungslosen Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“) der politische Führer in der Stadt und schließlich Anführer des Bauernheeres, das vor Frankenhausen schließlich vernichtet wurde.

 

Der Konflikt zwischen Luther und Müntzer wird bis heute thematisiert. Vor allem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts haben der Philosoph Ernst Bloch, Bischof Hanns Lilje und der Literat Dieter Forte versucht, die Person des „sozialrevolutionären Schwärmers“ neu zu bewerten. Man darf auf die Schriften über Müntzer neugierig sein, wenn im Jahr 2025 sich die dramatischen Ereignisse zum 500. Mal jähren. Aber es ist doch sehr fraglich, ob der damalige Prinzipienstreit zwischen der „obrigkeitsorientierten“ Theologie Luthers und der „linken“ Theologie Müntzers übertragbar sein könnte. Vor allem steht dem die damals benutze Begrifflichkeit entgegen. Die studierten Theologen Luther wie Müntzer haben aus Bibelzitaten (oft die selben) ihre kontroversen Auffassungen über die rechte, religiöse wie weltliche Ordnung abgeleitet und verteidigt, ein Unterfan­gen, das in der Zeit des Humanismus und der Renaissance selbst damals schon anachronistische Züge aufwies. Erasmus von Rotterdam hat dies gesehen und ist dem heftigen Werben Luthers nicht gefolgt. Es sollte jedoch noch zweihundert Jahre dauern, bis die Aufklärer des 18. Jahrhunderts versuchten, dafür ein adäquates System von Theorien und Begriffen zu schaffen. Sie (John Locke, David Hume, Voltaire, Immanuel Kant und Adam Smith) waren der Auffassung, dass sich das „Seele - Leib - Problem“ und das der rechten politischen Ordnung (und wie der Gefahr des Mutwillens und der Herrscherwillkür in der Politik zu begegnen sei) mit weltlichen Kategorien zu behandeln sei und vernünftig regeln lasse.

 

Mühlhausen nach dem Sieg der Fürsten in Frankenhausen

 

Mühlhausen wurde nach Frankenhausen hart bestraft. Unter Missachtung der Reichsunmittelbarkeit beanspruchten die in Frankenhausen siegreichen Fürsten (der Herzog von Sachsen, der Kurfürst von Sachsen und der Landgraf von Hessen) das Stadtregiment für jeweils ein Jahr und legten der Stadt in einem Sühnebrief harte Lasten auf. Mühlhausen verlor den Status einer freien Reichsstadt. Der zu Müntzers Zeit geschaffene „ewige Rat“ wurde durch den alten Rat der Patrizierfamilien ersetzt. Auch die Behandlung von Müntzer war exemplarisch gedacht. Zunächst wurde er in das Schloss Heldrungen des Grafen von Mansfeld gebracht, dort gefoltert und verhört und danach vor den Toren Mühlhausens hingerichtet.

 

Es ist auf das Geschick der Stadtregierung zurückzuführen, dass es ihr danach gelang, sich in Schritten dem Zugriff der Fürsten wieder zu entziehen. Als günstig sollte es sich erweisen, dass der „altkirchliche“ Herzog von Sachsen, der das Stadtregiment im ersten Jahr übernommen hatte, den la­teinischen Gottesdienst wieder eingeführt hatte. Daraus ergab sich eine Annäherung an die kaisertreue, katholische Partei in den nun ausbrechenden Auseinandersetzungen zwischen dem Reich und den im Schmalkaldischen Bund vereinigten protestantischen Fürsten. Dieses Vorspiel des dreißigjährigen Krieges ging 1547 zugunsten von Kaiser Karl V. aus (die Schlacht bei Mühlberg). Der Kaiser annul­lierte nach dem Sieg den Sühnevertrag von 1525 und erneuerte die Reichsprivilegien für die Stadt, die dritte Rekuperation.

 

Die weitere Entwicklung

 

Aber danach kam es zu Entwicklungen, die die Stadt in eine passive Rolle innerhalb der Geschichte drängen sollten. Die Zentren des Handels verlagerten sich auf andere Städte (vor allem Leipzig) und die Handelswege kreuzten sich daher nicht mehr in Mühlhausen. Die französische Revolution hatte mittelbar erhebliche Auswirkungen gehabt, denn auf dem Frieden von Lunéville 1801, der die Franzö­sischen Revolutionskriege abschloss, vereinbarten die Reichsfürsten eine Entschädigung für die Ver­luste ihrer linksrheinischen Gebiete. Dieses Abkommen wurde durch den Reichsdeputations-haupt­schluss von 1803 umgesetzt. Die Opfer waren die kleinen autonomen Gebiete, darunter Mühlhausen, das wie auch Quedlinburg dem preußischen Staat zugeschlagen wurde.

 

1806 zogen französische Truppen auf dem Weg nach Jena / Auerstedt an Mühlhausen vorbei und im selben Jahr erlosch das Reich nach fast 900 Jahren. Es mag noch als kurioses Nachspiel gelten, dass 1866 im sogenannten Deutschen Krieg die Truppen des hannoveranischen Königtums, die sich bei Gotha mit den Bayern gegen Preußen und Bismarck vereinigen wollten, an der selben Stelle süd­lich von Mühlhausen stecken bleiben sollten, an der 1075 Heinrich IV. die sächsischen Herzöge besiegt und damit die Reichsfreiheit von Mühlhausen wieder gewonnen hatte.

 

In unsere Zeit hat Mühlhausen seine schöne, abwechslungsreiche und in einer turbulenten Geschichte entstandene Stadtgestalt eingebracht. Wenige Städte bieten heute noch so einen authentischen Ausflug in unsere fernere Geschichtlichkeit wie Mühlhausen. Aber auch die Erinnerung an die überaus dramatischen und tragischen Ereignisse zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter der religiös motivierten Bürgerkriege in fast allen Ländern Europas und des ersten multinationalen, dreißigjährigen Krieges, der weite Teile Deutschlands verwüstete, sich fortsetzen sollten. Erst danach kam die Besinnung und die Erkenntnis, dass Intoleranz die schlimmste Krankheit ist, die ein Land befallen kann. In der Epoche der Aufklärung entstanden die Einsichten und Projekte, die eine Besserung anstrebten. In dieser Sicht kann der Ausflug (weiter unten) nach Schnepfenthal wie eine bessere Fortsetzung des geschilderten Verlaufs der gesellschaftlichen Spannungen und Brüche gelesen werden. Ganz Europa geriet damals in eine "produktive Stimmung" aus der Überzeugung und Vereinbarung, dass gesellschaftliche Verhältnisse durch Vernunft und Bildung durchschaubar und damit gestaltbar sein könnten.

 

Veröffentlicht in der Zeitschrift „Der Landkreis“ 3 / 2006

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© Rolf Derenbach

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