Wie schöne Städte entstanden sind Schöne Landschaften und ihre Geschichte
Wie schöne Städte entstanden sindSchöne Landschaften und ihre Geschichte

Quedinburg - metropolin Heinrichs I. und weltliches Frauenstift

Quedlinburg liegt inmitten des nördlichen Harzvorlandes. Die schöne Stadt gehört neben Halberstadt und Wernigerode zu einem Städtedreieck zwischen dem Steilabfall des Harzes und der langgestreckten Senke (Oberer Graben und Unterlauf des Flusses Bode) im Norden. Die schöne naturräumliche Lage kann man am besten erleben, wenn man von Magdeburg kommt, dann erscheint die vieltürmige Stadt in der Senke des Bodetales vor dem Hintergrund des blauen Bandes des Harzmassivs. Es ist ein Bild aus der Zeit vor dem Industriezeitalter mit einer natur- und kulturräumlichen Einheit und einer Stadtästhetik, die in vielen anderen Gegenden untergegangen ist.

 

Quedlinburgs Gründung und überregionale Bedeutung als eines der Zentren der sächsisch - ottonischen Königsherrschaft fällt in das 10. und 11.  Jahrhundert, also in die Zeit der deutschen Reichsgründung, das Alte Reich. Die ganz große Zeit Quedlinburgs als eine der wichtigsten Städte des Hochmittelalters liegt also schon lange zurück. Doch das bauliche historische Erbe, die Stiftsburg und die in ihr liegende romanische Basilika, die Gruft mit den Gräbern des ersten deutschen Königs Heinrich und seiner Frau Mathilde und ihrer gleichnamigen Enkelin, der ersten Äbtissin, der Domschatz und die unterhalb des Stiftsfelsens liegende Stadt mit ihren Fachwerkhäusern machen es dem Besucher leicht, eine gedankliche Brücke zu dieser fernen Epoche zu schlagen.

 

Wie konnte es überhaupt geschehen, dass das Zentrum der königlichen Macht so weit östlich im damaligen ostfränkischen und dann deutschen Reich entstand, dessen historischer Schwerpunkt ja doch die fränkischen Rheinlande waren? Zwei Sachverhalte waren dafür ausschlaggebend: einmal die geopolitische Bedeutung des nördlichen Harzvorlandes in der damaligen Zeit und zum andern die Eigenart der Reichsgründung als Personenverbandsstaat weniger hochadliger Familien, der Herzöge, der Bischöfe und der Äbte, in dem der Oberherr (König) durch Wahl bestimmt wurde.

 

Das nördliche Harzvorland

 

Gute Böden, Wasserreichtum und Schutz gegen äußere Feinde machten das Harzvorland schon früh zu einem bevorzugten Siedlungsgebiet. Die kulturräumliche Forschung (Otto Schlüters umfangreiche Arbeiten über die Siedlungsräume Mitteleuropas in früh-geschichtlicher Zeit) hat aus der Sichtung der Bodenfunde ermittelt, dass nördlich und östlich des Harzes und in der gesamten Magdeburger und der Leipziger Börde schon zu Beginn des ersten Jahrtausends ein größeres, geschlossenes Siedlungsgebiet der sog. Elbgermanen mit ihren verschiedenen Stämmen bestand. So vor allem die Langobarden am Unterlauf der Elbe, die Cherusker im Harz- und Bördegebiet und die Semonen (Sueben). Ihr späteres Vordringen in das Römische Reich sollte euro-päische Geschichte machen. Der ältere Drusus, Stiefsohn des Kaisers Augustus, drang 9. v. Chr. bis an das Ufer der Elbe (bei Magdeburg) vor. Man vermutet, dass sein Heer am Flusslauf der Bode entlang zog, dass er somit ein früher prominenter Besucher auf Quedlinburger Gebiet gewesen ist. Auf dem Rückweg fiel er allerdings vom Pferd und starb an den Folgen des Sturzes. Die Zeit der römischen Erkundungen rechts des Rheins und nördlich der Donau ging mit der katastrophalen Niederlage des Varus im Jahr 9 n. Chr. zu Ende.

 

Rückt man die Zeitachse um mehrere Jahrhunderte weiter, so zeigt sich ein ganz anderes Bild. Bedingt durch die Abwanderungen der genannten elbgermanischen Stämme, der Südwanderung der aus Jütland kommenden Sachsen in das Gebiet des heutigen Niedersachsens und Westfalens sowie dem Nachrücken slawischer Stämme bis zur Elbe- und Saalelinie lagen ganz andere geopolitische Verhältnisse vor. Das nördliche Harzvorland war nun ein Abschnitt eines Grenzstreifens entlang der genannten Flüsse geworden. Mit der Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen entstand eine Religionsgrenze zwischen dem christlichen Westen und dem heidnischen Osten, d.h. eine Konfliktzone für die folgenden Jahrhunderte.

 

Man muss ja sehen: das Gebiet des heutigen Norddeutschlands östlich des Rheinlandes war weitgehend unbesiedelt. Es bestand aus Wald und großen Sumpf- und Heide-gebieten, in denen einzelne, kleine Siedlungsinseln eingestreut lagen, für deren Aus-dehnung und Menschenzahl naturräumliche Gründe ausschlaggebend waren. Umso wichtiger war die große Siedlungsinsel nördlich des Harzes. Halberstadt und Bernburg an der Saale waren die östlichen Endpunkte und Grenzposten des vergrößerten karolingischen Reiches zu Beginn des 10. Jahrhunderts. Die Lage als Grenzmark war umso bedeutender, weil die verheerenden Einfälle der noch nicht sesshaften Ungarn, die das gesamte karolingische Reichsgebiet bedrohten, sich häuften. Man darf wohl vermuten, dass neben der Pfalz Werla und dem Bischofshof Halberstadt auch der Quedlinburger Sandsteinfelsen zum Schutz des Harzvorlandes genutzt wurde.

 

Jedoch nicht als karolingische, sondern als sächsische Gründung sollte die Quedlinburg aus ihrer lokal gebundenen Rolle heraustreten - dies für die ganze Zeit der Herrschaft der sächsischen Könige und Kaiser bis 1024 und auch noch darüber hinaus. Wichtige Hoftage, vor allem zu Ostern, wurden in Quedlinburg abgehalten.

 

Quedlinburg als Metropolin  

 

Quedlinburg wäre vermutlich ein Ort unter anderen geblieben, wenn nicht der letzte karolingische König Konrad den sächsischen Herzog Heinrich zum Erben der Königs-würde designiert hätte. Auf dem Hoftag in Fritzlar im Jahre 919 bestätigten die meisten deutschen Herzöge, Bischöfe und Äbte den Übergang der Königswürde auf das säch-sische Herzogsgeschlecht, dessen Eigenbesitz und somit räumliche Machtbasis rund um den Harz lag. Damit begann die Herrschaft der sächsischen Könige und Kaiser, die für die Festigung des Reiches wie für die endgültige Einbeziehung der norddeutschen Tiefebene in den Reichsverband ausschlaggebend war.

 

Heinrich, der die Vogeljagd liebte, soll der Legende nach auf freiem Feld vor Qued-linburg von der Nachricht des Todes Konrads und seiner Wahl zum deutschen König überrascht worden sein, daher König Heinrich der Vogelsteller. Es dauerte aber noch einige Zeit, bis er die Opposition der süddeutschen Herzöge gegen seine Wahl durch Zugeständnisse überwunden hatte. Schließlich wurden ihm auf der Quedlinburg von den Fürsten des Reiches gehuldigt und die Reichskleinodien überreicht.

 

Die Zeiten waren aber nicht danach, dass Heinrich als gewählter König auf eine ihn stützende Vertrauensgrundlage sich verlassen konnte. Seine wie seiner Nachfolger Regierungszeit war bestimmt durch Konflikte mit den auf Land- und Ruhmgewinn schielenden deutschen Stammesfürsten und des westfränkischen Königs. Hinzu kamen die Einfälle der Ungarn in den Sommermonaten. Ein ortsfestes Regieren von einer Stammburg aus gab es für ihn wie allen seinen Nachfolgern somit nicht. Aber die Quedlinburg blieb für ihn der wichtigste Ort, sein metropolin, in dem auch die meisten Reichsversammlungen zum Osterfest stattfanden.

 

Man weiß nicht, wie die Quedlinburg zu der Zeit, als sie zur metropolin aufgestiegen war, ausgesehen hat. Sicher aber ist, dass Heinrich die Burg weiter ausgebaut hat, vor allem legte er den Grundstein für die Kirche (Pfalzkapelle, Teile sind in der Gruft unter der heutigen Kirche erhalten). Er fasste die Ansiedlungen vor der Burg zusammen und befestigte sie. Überhaupt ging Heinrich als Gründer von Grenzburgen entlang der germanisch - slawischen Konfliktzone der Elbe-Saalelinie in die Geschichte ein. So sind zum Beispiel Merseburg und Meißen von ihm gegründet oder ausgebaut worden.

 

Für die Stärkung der Reichsidee war seine Regierungszeit sehr erfolgreich, weil er die Grenzen nach Norden wie nach dem Osten sichern konnte, den inneren Reichs-verband stärkte und schwelende Konflikte mit dem westfränkischen, karolingischen König (Vertrag von Bonn 921) mit diplomatischen Mitteln bereinigen konnte.

 

Er versäumte es nicht, für die Zukunft seiner Quedlinburg zu sorgen. Er wie auch später seine Nachfahren gewährten der unterhalb der Burg entstehenden Stadtgemeinde Quedlinburg wichtige Regalien, d. h. königliche Privilegien. So vor allem das Münzrecht, das Recht der Handelsfreiheit und die Befreiung von allen Zollabgaben im Reichsgebiet - damals und später noch viel mehr - unschätzbare Vorteile in einer Zeit der Fesselung des Handels durch Abgaben an jedem dafür geeigneten Ort.

 

Ein weiteres für die Geschichte der Stadt entscheidendes Datum hat mit dem Familienleben Heinrichs zu tun. 929 übergab er die Burg, die vor ihr liegende, bereits ummauerte Ansiedlung und ihr Umland seiner sehr viel jüngeren, zweiten Gemahlin Mathilde (Mechtildis) zum Witwentum, d.h. zu ihrer wirtschaftlichen Versorgung nach seinem Ableben. 

 

Mathilde erreichte für ihre Zeit ein sehr hohes Alter und so kam es, dass sie 30 Jahre lang Herrin auf der Quedlinburg wie in anderen Pfalzen (Nordhausen, Duderstadt) war. 966, zwei Jahre vor ihrem Tod, wandelte sie Quedlinburg in ein weltliches Stift für Frauen um (Kanonissinnen, d.h. ohne lebenslängliche Gelübde in religiöser Gemeinschaft lebende Frauen). Dadurch war für ihren Gemahl und für sie eine den Händeln der Welt entzogene Grab- und Gedenkstätte geschaffen, beide wurden in der Gruft unter der heutigen Stiftskirche beigesetzt.

 

Ihre gleichnamige Enkelin, zur Zeit ihrer Weihe 968 erst elf Jahre alt, wurde die erste

Äbtissin. Diese zweite Mathilde, Tochter Ottos des Großen, war eine der bedeutend-sten Frauen des Reiches, von 997 bis zu ihren Tod 999 führte sie die Regentschaft für ihren in Italien weilenden Neffen Otto III. Auch sie wurde in der Stiftskirche zu Qued-linburg beigesetzt, wie auch Adelheid I., die zweite Äbtissin und ähnlich bedeutend wie ihre Tante Mathilde. Alle diese Frauen des Hochmittelalters lebten wie die Kaiser-innen Adelheid von Burgund und Theophanu von Byzanz nicht in Weltabgeschiedenheit, sondern standen  inmitten des politischen Lebens.

 

Auch nach Heinrich I. wurden in Quedlinburg noch zahlreiche Hoftage abgehalten, auch unter dem letzten sächsischen Kaiser Heinrich II., der 1024 starb. Obwohl das terri-toriale Zentrum Heinrichs II. im Maingebiet lag, er stiftete das Bistum Bamberg, wurde Quedlinburg in den Urkunden aus jener Zeit nach der Jahrtausendwende noch immer als metropolin bezeichnet.

 

Quedlinburg als Reichsstift

 

Durch die Umwandlung in ein Stift und den damit einhergehenden Schenkungen und Privilegien während des sächsisch - ottonischen Königtums hatte sich der rechtliche Status Quedlinburgs ja entscheidend verändert. Da Königin Mathilde ihre Eigentums-rechte auf das Stift übertragen hatte, war es nun nicht mehr im Besitz der sächs-ischen Herzogsdynastie und somit den Zufällen und Streitigkeiten der Erbfolge entzogen. Quedlinburg und das Umland waren reichsunmittelbares Territorium geworden und damit eine geschützte politische Einheit im Reichsverband. Dieser Rechtsstatus sollte - wenn auch später eingeschränkt - bis 1803 / 06 - also fast 900 Jahre - überdauern. Wenn man die turbulente Geschichte der feudalen und dann frühabsolutistischen Wirrnisse bedenkt mehr als erstaunlich. Später erhielten die "Quedlinburger Fräulein" Sitz und Stimme auf dem Reichstag, sie saßen auf der Bank der rheinischen Prälaten.

 

Die Kirche als Ort der Beständigkeit, der Ruhe und der Erinnerung ist oftmals erneuert worden. Der heutige Bau, im Inneren in ganz reiner Romanik mit sächsischem Stützen- und Säulenwechsel, ist 1129 geweiht worden. Weitere Gebäude wie die Wohn- und Wirtschaftgebäude des Stiftes kamen hinzu, sie bilden eine hoch aufragende, imposante Gruppierung auf dem Felsen.

 

Die Zeit nach Heinrich und Mathilde

  

Mit der Umwandlung in ein Reichsstift war Quedlinburg machtpolitisch ja neutralisiert worden. Es wird unter anderem auch daraus verständlich, dass der Sohn Heinrichs, Otto der Große, den räumlichen Schwerpunkt seiner Herrschaft in seinen Stammlanden in andere Gegenden verlegte, nach Magdeburg und Merseburg (beide Städte sind von ihm gegründet bzw. ausgebaut worden). Von dort aus gingen die etwa 200 Jahre währende Expansion und Unterwerfung der Elbslawen zwischen Elbe und Oder aus. Die geo-politische Bedeutung des nördlichen Harzvorlandes änderte sich dadurch. Es geriet nicht gerade ins Abseits aber in eine Randlage der Geschichte aus zwei Gründen: Nicht die Gründung Karl des Großen, das Bistum Halberstadt, sondern Otto des Großen
Erzbistum Magdeburg übernahm die Rolle des machtpolitischen Zentrums an der Elbe. Infolgedessen verlagerte sich die West-Ost Verbindung auf die Linie Hildesheim - Magdeburg, führte also nicht mehr durch Halberstadt und Quedlinburg. So ist es bis heute.

 

Mit dem welfischen Herzogtum Braunschweig - Lüneburg entstand westlich des nördlichen Harzvorlandes ein starker und höchst gefährlicher Konkurrent für das Bistum Halberstadt und die gesamte Region. Zum Verständnis der Machtverhältnisse muss man wissen, dass die Bischöfe ebenfalls Grundherren waren und ebenso verbissen um Landgewinn kämpften wie die weltlichen Grundherren. (Um seine Einfluss-möglichkeiten östlich der Elbe zu sichern, sollte der Bischof von Halberstadt die Bischofsstadt Merseburg zerstören!).

 

In jener turbulenten Zeit entstanden die zahlreichen Burgen rund um den Harz. Man wird in wenig anderen deutschen Gegenden so viele Burgen vorfinden, jede als Bastion zur Verteidigung königlicher, bischöflicher oder grundherrlicher Ansprüche errichtet und oft genug zerstört (und unter anderen Besitzverhältnissen wieder aufgebaut). Trauriger Höhepunkt der Rivalitäten zwischen den Welfen und dem Bischof in Halberstadt war die vollständige Zerstörung des Domes und der Stadt Halberstadt durch Heinrich den Löwen im Jahr 1180.

 

Letztendlicher Gewinner dieser erbitterten Kämpfe waren nicht die welfischen Herzöge, sondern die askanischen Grafen, deren Stammburg ebenfalls im nördlichen Harzvorland liegt, und damit auf lange Sicht gesehen Brandenburg-Preußen. Reichsstift und Stadt Quedlinburg blieben von diesen heftigen Querelen verschont. 

 

Die Reichsunmittelbarkeit des Stiftes blieb unangetastet und dies trug wesentlich dazu bei, dass Quedlinburg auch der Begehrlichkeit der umliegenden Grafen, die auch auf territorialen Zugewinn schielten, entzogen blieb. Nur einmal versuchte der Graf von Ringelstein, sich der Stadt zu bemächtigen. Schnell rief die damalige Äbtissin von  ihren kursächsischen Brüdern Hilfe herbei, und er wurde gefangengenommen und zum Tode verurteilt. Erst auf dem Richtplatz wurde er mit der Auflage begnadigt, den angerich-teten Schaden zu ersetzen - ein schönes Beispiel für die kluge Herrschaft der Äbtissinnen.

 

Und ihre selbstbewusste Art und Klugheit mag auch mit dazu beigetragen haben, dass die erste promovierte Ärztin Deutschlands (und die zweite weltweit) Dorothea Christiane Erxleben (1715 - 1762) aus Quedlinburg stammt. Ihre "Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten" aus dem Jahre 1742 ist ein frühes Dokument der Frauenemanzipation. Ihr Geburtshaus und auch das von Friedrich Gottlieb Klopstock, einem weiteren berühmten Quedlinburger, sind noch heute zu besichtigen.

 

Quedlinburg wurde als Einrichtung für die standesgemäße Versorgung von Töchtern und  Schwestern aus hochadligen Familien, die aus dynastischen oder sonstigen Gründen nicht verheiratet werden konnten, geschätzt. Auch abgelegte Mätressen mussten mehr oder weniger freiwillig "ins Stift nach Quedlinburg", so die Gräfin Aurora von Königsmarck, die August dem Starken den Kopf verdreht hatte.

 

Die Bedeutung des Stiftes zur Apanage unverheirateter Töchter der Hochadels dürfte ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass das Stift die Säkularisation der Reformationszeit ohne Schaden überstand. Damals erfolgte die Umwandlung in ein "freiweltliches Stift“. Die oben erwähnte kursächsische Schutzherrschaft, die dem Ringelsteiner Grafen zum Verhängnis geworden war, ging später auf Brandenburg-Preußen über. Daraus erklärt sich, dass die jüngste Schwester Friedrichs II., Anna Amalie, Äbtissin auf der Quedlinburg wurde. Eine Residenzpflicht war damit aber nicht verbunden, Anna Amalie lebte meistens in Potsdam und Berlin. Gleichwohl hat sie sich während ihrer dreißigjährigen Herrschaft für das Wohlergehen des Stifts sehr verdient gemacht.

 

Quedlinburg als Bürgerstadt

 

Mit den genannten  Privilegien und unter der doch durchaus akzeptierbaren Herrschaft der Stiftsdamen konnte sich Quedlinburg als bürgerliche Handelsstadt sehr gut entwickeln, was u. a. dazu führte, dass im 12. Jahrhundert das ummauerte Stadtgebiet durch Hinzufügung einer Neustadt in etwa verdoppelt wurde. Seitdem besteht das historische Quedlinburg aus drei Teilen: dem Felsen mit dem Stift, davon säuberlich getrennt die Altstadt und schließlich auf der anderen Seite des Wasserlaufs, der von der Bode in die Stadt abgeleitet wurde, die Neustadt. In der Altstadt sind die Straßen noch eng und verwinkelt, eine organische Linienführung, in deren Mitte das Ensemble des Marktes, des Rathauses, des Kirch- und Friedhofsbezirkes liegt. Die Hauptbewegung ist von West nach Ost, die sich vom Marktplatz aufteilt in zwei parallele Straßen, die Breite und die Schmale Straße als Marktstraßen. Dagegen ist die Neustadt deutlich als angelegte Stadt zu erkennen. Die Straßen bilden ein in sich geschlosseneres System, sie sind breiter und die Straßenblöcke einheitlicher.

 

Das ganze historische Stadtgebiet ist bis heute von Mauern und Türmen umgeben. Wenn man von dem Stiftsfelsen bis zum äußeren östlichen Ende, dem früheren Öhringer Tor hindurchwandert, erlebt man einen Gang durch viele Jahrhunderte und umgeben von der Fachwerkbaukunst des 15. bis zum 17.  Jahrhundert mit einzelnen Einsprengseln von Bauten in barockem Stil. Nur an wenigen Stellen kommen fremde Elemente hinein, so auch am Marktplatz mit einigen architektonischen Sünden des Historismus des späten 19. Jahrhunderts. Die Geschlossenheit des Stadtbildes ist jedoch nicht weiter beeinträchtigt.

 

Spätere Stadtgeschichte

 

Eigentlich lässt sich über die  Geschichte Quedlinburgs in der späteren Zeit nichts besonders Aufregendes mehr berichten. Aber ein Ereignis ist doch zu erwähnen. Im 14. Jahrhundert versuchten die Quedlinburger Stadtherren insofern einen Aufstand gegen die Stiftsherrschaft, indem sie sich dem Städtenetz der Hanse anschlossen. Diesen Schritt in die bürgerliche frühe Emanzipation duldete die damalige Äbtissin, wiederum eine Schwester sächsischer Herzöge, jedoch nicht. Es kam zur Eroberung der Stadt durch Sachsen, und die aufmümpfigen Kaufmänner mussten aus dem Verband der Hanse wieder austreten und der Äbtissin neu „huldigen“, d. h. sich unterwerfen. Da die Äbtissin ihren Herren Brüdern auch die Schutzherrschaft, d.h. das Recht im Interesse der Fräuleins militärisch zu intervenieren, übertrug, war damit der Versuch der Stadt, Quedlinburg möglichst viel Selbstverwaltung zu sichern, gescheitert. Der Dualismus zwischen dem Stift und der Stadt dürfte immer bestanden haben, aber sehr hat das bürgerliche Quedlinburg nicht darunter gelitten, wie die reich geschmückten Fachwerkhäuser nachdrücklich belegt.

 

1806 erlosch das Alte Reich und zugleich rückte Napoleon nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt in Berlin ein. Für einige Jahre gehörte Quedlinburg zum westfälischen Königreich seines Bruders Jérome. Dieser wollte die Welt nicht umstürzen, sondern seine Macht genießen und dazu brauchte er Geld. Er ließ deshalb alles, was in den Prunkräumen der Stiftswohnungen weggeschafft werden konnte, versteigern. Darunter auch den kostbaren Spiegel aus Quarz, der nach Stockholm ging und  dessen  Nichtan- wesenheit in Theodor Fontanes Roman „Cécile“ erwähnt wird.

 

Nach 1815 gehörte Quedlinburg wieder zum nun großmächtigen Königtum Preußen. Als preußische Kreisstadt verblieb Quedlinburg eine administrative Rolle. Die Wirtschaft der Stadt nahm durch Blumen- und Saatgutzucht sowie durch Zuckerfabriken einen großen Aufschwung.

 

Hinzu kam der Tourismus. Die Begeisterung des romantischen Zeitalters für das Mittelalter führte viele Besucher nach Quedlinburg. Begüterte (Berliner) Städter kamen  in den Harz und das nördliche Harzvorland zur Erholung. Und auch jene Schwärmer, die - wie ja auch Goethe in seinem Essay über den Granit oder im zweiten Teil des Faust - im Harz eine verwunschene Landschaft sahen. Leider ist Heine auf seiner "Harzreise" nicht bis nach Quedlinburg vorgedrungen. Fontane kam sehr oft in das nahe gelegene Thale zur Sommerfrische, er hat dort die Bequemlichkeit, den rechten Maßstab, den Abstand von der Wichtigtuerei Berlins und der arroganten Hochnäsigkeit der damaligen Modebäder sehr geschätzt.

 

Quedlinburg ist nicht wie Halberstadt im Krieg zerstört worden. Aber die Vernachlässigung der historischen Bausubstanz während der DDR-Zeit hat der Stadt Schaden zugefügt. Dass geplant war, die schöne Innenstadt abzureißen und ihre Bewohner in Plattenbauten unterzubringen, ist kaum zu glauben. Vielleicht in keiner Stadt Deutschlands ist eine an historischen und kulturlandschaftlichen Werten ausgerichtete, behutsame Stadtentwicklung so notwendig wie hier. Ganz zweifellos ist in diesem Sinne durch private und öffentliche Initiative auch schon sehr viel
erreicht worden. Eine 1000 Jahre alte Stadt mit ihrem reichen Kulturerbe, das in seiner Schönheit voll erhalten geblieben ist, muss nicht im Sauseschritt runderneuert werden. 

 

Seit 1994 ist Quedlinburg UNESCO-Weltkulturerbe. Auch dies ist ein Schutz, eine Verpflichtung und die Grundlage für eine gute Zukunft. Ich müsste mal wieder hinfahren!

 

(Erschienen in der Zeitschrift „Der Landkreis“ 11/ 2002)

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© Rolf Derenbach

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