Wie schöne Städte entstanden sind Schöne Landschaften und ihre Geschichte
Wie schöne Städte entstanden sindSchöne Landschaften und ihre Geschichte

Das schöne Sandomierz in den Gärten am Pfeffergebirge

 

Es gibt Städte in Europa, deren angenehm klingender Name gewissermaßen das Besondere und Schöne ihrer Gestalt andeuten. Zu ihnen gehört die polnische Stadt Sandomierz (Sandomir) am mittleren Lauf der Weichsel. Das „S“ am Anfang und das „Sch“ am Ende schließen die drei hellen Vokale a, i und o ein, eine Kombination mit einem inneren Wohlklang. Und - wie noch zu zeigen sein wird - setzt sich der schönlautende Name der Stadt auch in ihrer Anlage und Farbigkeit fort. Ich meine den Gedanken äußern zu können, dass - als Franz Grillparzer in alten Chroniken einen Ort für seine (gruselige) Ehebruchgeschichte „Das Kloster bei Sendomir“ suchte - er den Namen der Stadt wegen ihres auch etwas Geheimnisvolles andeuteten Klangs ausgewählt hat. Einen Bezug zu einem historischen Ereignis in der Stadt gibt es jedenfalls nicht, trotz der Behauptung Grillparzers, dass es sich um eine „als wahr überlieferte Begebenheit„ handele.

 

Die Historiker meinen, dass der Name der Stadt auf Sudomir, den historisch allerdings nicht nachweisbaren Gründer zurückgeführt werden kann. Die Archäologen haben durch Funde nachweisen können, dass eine Besiedlung der Hügellandschaft am mittleren Weichsellauf schon seit der Eisenzeit bestand. Es ist der Stolz der Stadtbewohner, dass in der ersten Chronik der polnischen Geschichte, die im frühen 12. Jahrhundert von Gallus Anonymus verfasst wurde, Sandomierz neben Krakau und Breslau als eine der drei wichtigsten Städte des Landes genannt wird. Eine Stadt im Sinne einer mittelalterlichen, mit Stadtrechten ausgestatteten und bewehrten Gemeinde ist Sandomierz seit dem beginnenden 13. Jahrhundert (1236 Verleihung des Stadtrechts).

 

Im 12. und bis Anfang des 14. Jahrhunderts war Sandomierz Haupt- und Residenzstadt eines polnischen Teilfürstentums. Aber in dieser Zeit erlebt Polen wie auch die Stadt einen ersten dramatischen Niedergang. 1240 und 1259 fielen mongolische Stämme in Polen ein, und auch die Stadt ist damals geplündert und verbrannt worden. Was heute den überaus reichen Bestand an alten wie schönen Gebäuden ausmacht, geht bis auf den Wiederaufbau der Stadt unter Kazimierz den Großen, Herzog des Sandomierzschen Teilfürstentums und polnischer König von 1330 bis 1370 zurück.

 

Er hat als kluger Staatsmann im Inneren wie im Äußeren die Festigung der polnischen Staatlichkeit wiederhergestellt. Sandomierz war in all den Jahrhunderten nach Kazimierz - wenn auch in wechselnder Bedeutung - eine Hauptstadt des östlichen Kleinpolens, d.h. das Territorium von Krakau entlang des Oberlaufs der Weichsel. Im Schicksal der Stadt wie in ihren Gebäuden spiegelt sich oft genug die wechselvolle Geschichte Polens zwischen Phasen eines politisch einheitlichen wie eines zersplitterten Landes wieder. Auch heute ist Sandomierz die Hauptstadt des powiat (Landkreis) mit gleichem Namen.

 

Da deutsche Leser nur sehr wenig über die polnische Geschichte wissen, versuche ich, die lokale Geschichte Sandomierz im zweiten Teil dieses Berichts mit dem Blick auf die Geschicke des ganzen Landes darzustellen, wobei die frühe Geschichte bis zum Ende des Mittelalters im Vordergrund steht. Aber zunächst geht es um die geographischen Grundlagen, das urbane Milieu und die Gebäude, die für die eindrucksvolle Eigenart der Stadt besonders wichtig sind.

 

Die Lage am linken Ufer der Weichsel und am südlichen Rand des Pfeffergebirges

 

Sandomierz liegt am linken Ufer der Weichsel, etwa in der Mitte zwischen Warschau und Krakau. Man erreicht die Stadt von Warschau und Radom aus mit dem Überlandbus, allerdings von ihrer dem Fluss abgewandten Seite her. Eindrucksvoller ist es dagegen, wenn man die Straße am linken Ufer der Weichsel benutzt. Schon einige Kilometer vor der Stadt verändert sich die bis dahin ganz flache Landschaft in eine Hügellandschaft, die als das Pfeffergebirge bezeichnet wird. Möglicherweise ist dieser lustige Name als Gewürzgebirge zu verstehen, denn im Mittelalter war das Wort Pfeffer die allgemeine Bezeichnung für alle Gewürze, die im nordalpinen Europa kultiviert werden konnten oder aus dem Orient eingeführt wurden.

 

Der Blick auf die geologische Karte Polens zeigt, dass in der geographischen Mitte des zumeist flachen Landes der Sockel eines Gebirges der Erdalterzeit herausragt. Er ist der Höhe nach - bei der Stadt Kielce erreicht er etwas mehr als 600 Meter - nicht gerade bedeutend, aber in seiner Singularität als erdgeschichtliches Zeugnis sehr auffallend. Bei Sandomierz findet man die niedrigen Ausläufer dieses Mittelgebirges bis zum Weichselfluss mit einem Steilufer. Auf dem rechten Ufer des Flusses erstreckt sich dagegen das ganz flache Land um den Fluss San, der etwas nördlich von Sandomierz in den wichtigsten polnischen Strom einmündet.

Während der letzten Eiszeit - als das Land südlich der Eisgrenze nur sehr spärlich von Vegetation bedeckt war - wurden aufgewirbelte Sande und Staubpartikel herbeigeführt, die sich an den Hängen des Pfeffergebirges ablagerten. Dies ist der Grund für die sehr fruchtbaren Lösböden in der Gegend um Sandomierz. Seit dem 12. Jahrhundert ist dort eine reiche Kulturlandschaft mit Gärten und Obstwiesen entstanden. Sie ist eines der wesentlichen Charakteristika der Stadt, sowohl kulturlandschaftlich (landschaftliche Vielfalt wie Schönheit) wie lokalwirtschaftlich. Der landwirtschaftlich betriebene Garten- und Obstanbau und die Weiterverarbeitung der Erzeugnisse bilden bis heute eine der wirtschaftlichen Grundlagen der Stadt.

 

Blickt man noch einmal auf den Atlas so wird deutlich, dass die Weichsel - durch diesen naturräumlichen Riegel östlich abgelenkt - ihn umfließt. Südlich von Sandomierz bildet der Fluss eine weit geschwungene doppelte Schleife - von den Türmen der Stadt aus sehr eindrucksvoll vor dem tiefen Grün der flachen Landschaft am rechten Ufer der Weichsel wahrzunehmen. Wie in jeder hochgelegenen Stadt kann man die Weite der Landschaft, ihre Unterschiedlichkeit und - was die Künstler Luftperspektive nennen - das sich Verändern und Verblassen der Farben in der Tiefe des Raums erleben. In Sandomierz besteigt man zu diesem Zweck am besten den Kazimierzturm. Die topographische Plastizität des Stadtgebiets wie die im Jahresablauf wechselnde Farbigkeit der Landschaft und der Vegetation - ästhetische Qualitäten, die den Besuch der Stadt so attraktiv machen - kann man von dort aus besonders gut genießen.

 

Die Stadt liegt auf einer Gruppe von sieben Hügeln am südlichen Rand des Pfeffergebirges, von ihm durch eine Einbuchtung abgetrennt. In ihrer Gesamtheit bilden diese ein welliges Plateau, das in seiner Gesamtheit von den Gebäuden der historischen Stadt eingenommen wird. Nach der Umrundung des Pfeffergebirges von Norden her erscheint die zum Fluss hin gewandte Silhouette der Stadt, die durch markante Gebäude bestimmt wird: das langgestreckte Gebäude des ehemaligen Konvents des Jesuitenordens, eine der ältesten Adelsschulen Polens, das Dach der wichtigsten Kirche der Stadt, der Kathedrale, und das von Kazimierz errichtete Schloss. Diese Gruppierung bildet das Sandomierz der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit und Macht. Dahinter erstreckt sich - zunächst nicht sichtbar - das bürgerliche Sandomierz mit einem großen Marktplatz und dem wie eine von einem Bildhauer geschaffene Skulptur des freistehenden Rathauses und dem Turm am wichtigsten Eingang zur Altstadt - dies sind die Wahrzeichen des Sandomierz der Bürger und des Handels. Weitere Gebäude, die Synagoge, zwei Klostergebäude gehören zu diesem sehr schönen urbanen Ensemble.

 

Das Stadtbild als ungestörtes historisches Ensemble

 

Was die Altstadt von Sandomierz so schön und anregend macht, ergibt sich aus der topographischen Lage auf dem nach drei Seiten abfallenden Hügelplateau. Die modernen Viertel sind von der Altstadt getrennt. Die Altstadt ist somit nicht ein historischer Stadtkern innerhalb eines größer gewordenen, amorphen Stadtgebiets, sondern in ihrem historischen Erscheinungsbild und ihrem kleinteilig-menschlichen Maßstab ganz ungestört geblieben. Diese Ensemblewirkung, das geschlossene Stadtbild, steht an erster Stelle des Sehenswürdigen. Auch die Tiefe der Altstadt ist bemerkenswert, nicht nur der Steilabfall zum Ufer der Weichsel, sondern die Keller, die unter den Häusern in den weichen Untergrund gegraben wurden. Weil die Vorräte der Haushalte und Waren der Kaufleute in den Gewölben unter den Häusern gelagert werden konnten, sind die Bürgerhäuser vergleichsweise niedrig, zumeist zweistöckig. Die Stadt wuchs also in die Höhe und in die Tiefe. Die Aushöhlung des Untergrunds hat vermuten lassen, dass es sich auch um ein unterirdisches Schutz- und Verteidigungsnetz handeln könnte. Gründe dafür waren durchaus vorhanden, denn Sandomierz hat ja katastrophale Überfälle erlebt.

 

Die wichtigsten Gebäude

 

Jedes der Gebäude in Sandomierz ist in seiner Form und Architektur höchst unterschiedlich, wie Zeitzeugen vergangener Jahrhunderte stehen sie da, Sandomierz hat eine historische Authentizität, die sofort die Frage nach Epochen und historischen Vorgängen aufkommen lässt.

 

Das Schloss steht von der eigentlichen, durch die Mauern und durch die Abhänge zum Ufer der Weichsel gefassten Stadt auf einem südlichen Vorhügel. In seiner heutigen Gestalt ist es jedoch nur der Rest eines größeren Gebäudes, denn 1655 wurde es von schwedischen Truppen zerstört. Übrig geblieben ist nur der westliche Flügel der gesamten Anlage. Er steht schön renoviert da, wie es in der osteuropäischen Renaissancearchitektur aufgeführt wurde, besonders sehenswert von Süden, weil dort die ältesten Mauern der Gründungszeit mit der weiß getünchten Schlossfassade und der Topographie des Hügels schön kontrastieren.

 

Das Rathaus ist das Gebäude, das für die meisten Besucher wohl als das Auffallendste empfunden wird. Es ist nicht groß im Grundriss. Aber in seiner Höhe, dem kubischen Sockel mit seiner symmetrischen Fensteraufteilung und dem obersten Geschoss mit seinem reich geschmücktem Fries wirkt es wie eine Skulptur in einer rot und weiß gehaltenen Farbigkeit inmitten des für die kleine Stadt ja sehr großen Marktplatzes (etwa 100 mal 100 Meter). Der Turm ist später hinzugefügt worden, in schönster Kaufmannsauffassung befindet er sich nicht in der symmetrischen Mitte des Rathauses. Der weiträumige Altmarkt und das Rathaus stellen ein eindrucksvolles Monument des Bürgerstolzes dar.

 

Die Kathedrale ist eine gotische Hallenkirche, d.h. eine Kirche mit gleich hohen Kirchen-schiffen und dementsprechend einem hohen Dach. Auf ihm sitzt ein ganz gelungenes neogotisches Dachreitertürmchen. Der barocke Giebel der Westfassade stammt aus der Zeit der Gegenreformation. Einen Bildersturm hat es in Polen nicht gegeben und daher ist das Innere der Kirche reich geschmückt, von der ursprünglichen Gotik über den Barock bis hin zu Ausmalungen des Historismus des 19. Jahrhunderts. Als barocker Campanile stehen neben ihr der Glockenturm und des weiteren die kirchlichen Amtsgebäude, Samdomierz ist seit alters her ein Bischofssitz. Ebenfalls am Rande des Plateaus liegt die ehemalige Schule des Jesuiten-ordens, auch heute als Schule genutzt, und ebenfalls mit einem Fries versehen, der sich als Band über das ganze langgestreckte Gebäude hinzieht. Der bereits erwähnte Kazimierzturm - richtiger der Opatower Turm - ist das erhalten gebliebene mittelalterliche Stadttor. Auch es demonstriert durch seine Höhe und in seiner Farbigkeit die städtische Kultur.

 

Der Verlauf der Straßen ist nicht - wie in den ganz alten Städten - verwinkelt, sondern gradlinig, zwei Hauptstraßen durchziehen das Plateau auf seiner ganzen Länge, in der Mitte bilden sie den Nord- und Südrand des Marktplatzes. In dieser Anordnung zeigt sich das Schicksal der Stadt, die im 13. Jahrhundert zweimal zerstört worden ist und danach in dieser Gradlinigkeit wieder aufgebaut wurde. Wie gesagt, jedes Gebäude und die Stadt als Ganzes insgesamt atmen Geschichte, sowohl örtliche wie nationale, und diese soll nun - mit Schwerpunkt auf die für Sandomierz wichtigsten Epochen - dargestellt werden.

 

Der historische Hintergrund und die wechselnde Stellung Sandomierz in der polnischen Geschichte

 

Sandomierz war vor allem im Mittelalter ein bedeutender Ort, wichtige Ereignisse von nationalgeschichtlicher Bedeutung fanden hier statt. Um die wechselnde, politische Bedeutung der Stadt zu verstehen, muss man zunächst zwei Sachverhalte näher betrachten: Zum Einen die erste Besiedlung des Landes in vorgeschichtlicher Zeit und zum Andern die entstehende Staatlichkeit Polens im frühen Mittelalter, d.h. den Zeitraum vom 9. bis zum 11. Jahrhundert. Danach folgte die für Sandomierz besonders wichtige Epoche, als König Kazimierz regierte und die Stadt wieder aufblühte. Auch im großen nordischen Krieg (1700 – 1721) war Sandomierz der Ort, an dem sich die Opposition gegen den schwedischen König Karl XII. formierte.

 

Die Räumlichkeit Polens und die erste Besiedlungsepoche

 

Polen gehört in die Großlandschaft der mitteleuropäischen Tiefebene. Den südlichen Rand bildet die durchgehende, wenn auch eingebuchtete Linie der Gebirge von den belgischen Ardennen bis zu den Karpaten und dem Schwarzen Meer. Diese langgestreckte europäische Ebene ist in ihrer topographischen Eigenart zwischen Elbe und Weichsel von den heranrückenden und sich wieder zurückziehenden Eismassen, die von den bis zu 3000 Meter hohen Gletschern Skandinaviens stammten, geprägt.

 

Am deutlichsten ist die Eiszeit erkennbar an den Urstromtälern, den Abflussrinnen der schmelzenden Eismassen, den niedrigen Erhebungen (Endmoränen) und den Senken (Brüche). In den Senken der Urstromtäler bildeten sich für die Besiedlung nicht geeignete Sümpfe und große Moore, die das Land als schwer passierbare Barrieren zerteilten. Da das mittlere Polen in der letzten Eiszeit nicht mehr vom Eis bedeckt aber weitgehend ohne Vegetation war, lagerte sich der von den Winden herbeigeführte Erdstaub an den topographischen Rändern und Erhebungen ab und schuf dort fruchtbare Böden, dieser Situation verdankt auch das Land um Sandomierz seine ertragreichen Böden. Es ist daher nicht überraschend, dass rund um die Stadt Spuren sehr früher Besiedlung nach dem Ende der letzten Eiszeit gefunden wurden.

 

Der Übergang in die Sesshaftigkeit erfolgte, als durch das Verarbeiten von Eisen / Bronze die Geräte für die Urbarmachung des Bodens und für die Hauswirtschaft hergestellt werden konnten. Die Siedler - es waren ja nur sehr wenige Menschen, für das Polen des 10. Jahrhunderts geht man von einer Bevölkerung von 700 Tausend Menschen aus - suchten sich ihre Siedlungsplätze nach der Verfügbarkeit fruchtbarer Böden, des Wassers und des Schutzes vor äußeren Bedrohungen, räumliche Gegebenheiten, die an den Rändern des Pfeffergebirges vorgefunden wurden. (Manches was die Historiker mit Akribie beschreiben, die Taten und mehr noch die Untaten der großen Politik, verblassen doch sehr vor dem hartnäckigen Einsatz der Menschen dieser Epochen der primären Urbarmachung, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und ihr überaus schweres Leben in kleinen, in der Summe aber bedeutenden Schritten leichter zu machen).

 

Dass Sandomierz um die erste Jahrtausendwende schon als politisches Zentrum bezeichnet werden kann, lässt sich aus der schon erwähnten historischen Beschreibung (spätes 11. Jahrhundert) des Mönchs Gallus Anonymus nachweisen. Er erwähnte Sandomierz als eine der wichtigsten Orte des damaligen Polens. Welchen politischen Rang Sandomierz damals einnahm, ergibt sich aus der politischen Geschichte Polens jener Zeit.

 

Die Entstehung einer frühen Staatlichkeit Polens

 

Staatlichkeit“ im frühen Mittelalter bestand im Wesentlichen darin, mehrere Siedlungsinseln zu einem politischen Territorium zu vernetzen und gegenüber der Außenwelt durch den Bau von Befestigungen an den gefährdetsten Stellen (die Moorpässe und Flussfurten) zu sichern. Dies geschah unter der Vorherrschaft einer politischen Einfluss und militärische Dominanz sammelnden Dynastie. Im Falle Polens ereignete sich dieser Vorgang im 9. und 10. Jahrhundert, also zu einer Zeit als die erste Staatlichkeit im Westen Europas, das Reich Karls des Großen und der nachfolgenden Staaten, darunter das römisch-deutsche Reich, und das böhmische Königreich, schon abgeschlossen war.

 

Die Dynastie, die die Stämme der Polanen (in der Wortbedeutung „die Feldbewohner“) im Gebiet zwischen Oder und Weichsel (die Landschaft Großpolen, d.h. das „erste“ Polen) einte, waren die Piasten, die - genealogisch durchaus erstaunlich - über mehr als 500 Jahre bestimmend waren, in schlesischen Seitenlinien sogar bis in das späte 17. Jahrhundert. Der Name leitet sich von Piast, dem legendären Stammvater der Dynastie, ab. Der erste, der sich als König von Polen bezeichnete, war Boleslaw I. Chrobry (der Kühne) ein (militärischer) european player, der seine Herrschaft auch auf den Süden, auf die Provinzen Krakau und Sandomierz (die Landschaft Kleinpolen, das zweite Polen), auf Schlesien und auf Pommern ausdehnte. Seit seiner Zeit war Polen auf der politischen Landkarte präsent und von Papst und Kaiser in ihre Politik eingebunden. Das Polen des 10. Jahrhunderts entsprach in seinen Grenzen ziemlich genau dem heutigen Polen.

 

Die Aufteilung des Landes in Teilfürstentümer - Sandomierz als Residenzstadt des nordöstlichen Kleinpolens

 

Es ist nicht nötig, jedes Detail der ständigen Wirren, die zu manchen Zeiten im Gegensatz zu anderen in Zusammenarbeit mit den Kaisern des römisch-deutschen Reichs bzw. im Verhältnis zum mächtigen Königreich Böhmen erfolgten, nachzuzeichnen. Der wichtigste Einschnitt zu Lasten der bisherigen universalistischen Herrschaft zugunsten regionaler Teilherrschaften mit immer größerer Autonomie ereignete sich nach dem Tod des Königs Boleslaw III. im Jahr 1138. Dessen vier Söhne teilten - auf der Grundlage der Erbverfügung des Vaters - das Land in vier Fürstentümer auf: Großpolen und Pommern, Masowien (das Gebiet um Warschau), Krakau und Schlesien und als viertes das Herzogtum Sandomierz. Seit 1139 und dies bis 1332 war Sandomierz somit Haupt- und Residenzstadt eines piastischen Herzogtums.

 

Als Klammer dieses „föderalisierten“ Staates sollte das Seniorat (auch Prinzipat genannt) dienen, d.h. die Zuständigkeit des in Krakau residierenden Herzogs für die gesamtstaatlichen Belange. Dieser war der jeweils älteste männliche Nachfahre (daher der Begriff Seniorat). Aber was als Sicherung der Herrschaft der Piastendynastie gedacht war, erwies sich als Beginn von Verselbständigungen und Abspaltungen der Seitenlinien der Piastendynastie und als Ursache innerdynastischer Rivalitäten. In diese Zeit fällt die fortschreitende Loslösung der schlesischen Herzogtümer (Anlehnung der dortigen piastischen Seitenlinien an das böhmische Königtum, woraus sich dann später die Eingliederung Schlesiens in die Habsburger Dynastie ergeben sollte), der Verlust von Gebieten im Westen und Norden (Ostexpansion der Markgrafschaft Brandenburg über die Oderlinie hinaus und die Verselbständigung des pommerschen Herzogtums).

 

Eine weitere gebietliche Einschnürung Polens geschah schließlich ab 1226 durch den Staat des Deutschen Ritterordens an der Nordostgrenze (Preußen). In der Folge war der Zugang zur Ostsee und damit die Teilnahme am florierenden Ostseehandel verschlossen.

 

Das den Staat zusammenhaltende Prinzipat verlor bald jede Bedeutung bis hin zum Verzicht der Herzöge in Krakau auf den zumindest die Einigkeit symbolisierenden Königstitel, jedoch nicht die Idee eines Polens das zumindest Groß- und Kleinpolen umfassen sollte. 1240 kamen - so plötzlich wie ein Unwetter - wandernde und dabei zerstörende Mongolenstämme über das östliche Europa und in diesem Zusammenhang wurde Sandomierz zum ersten Mal einge-nommen, die Einwohner umgebracht und die Stadt verbrannt. Die mongolischen Stämme, die in ihrer Gesamtheit also auch mit Frauen und Kindern unterwegs waren, zogen nach Schlesien weiter mit ebenso zerstörender Wirkung. Erst bei Liegnitz wurden sie von einem polnisch-deutschen Heer gestellt, das sie jedoch besiegten. Es ist eines der Mirakel der europäischen Geschichte, dass sie danach jedoch nicht das westliche Europa (mit sogar weltgeschichtlichen Folgen) einnahmen, sondern in ihre weit entfernte Heimat zurückkehrten. Man vermutet, dass der Grund hierfür der Tod ihres obersten Anführers war, dessen Nachfolger durch alle Stämme zu bestimmen war. 1259 kamen sie zurück, mit nochmals ebenso schrecklichen Folgen für die unglückliche Stadt, aber dieser Einfall blieb im größeren Zusammenhang Polens und Europas eine Episode.

 

Politische Erneuerung unter Wladislaw I. und Kazimierz den Großen

 

Eine Wiedererstarkung des polnischen Königtums als eines zum gemeinsamen Handeln befähigten, wenn auch verkleinerten Polens geschah unter Wladislaw I. (1320 - 1333) und noch mehr unter seinem Sohn Kazimierz dem Großen (1333 - 1370). Beide verhalfen der in Krakau residierenden, monarchischen Zentralmacht wieder zur Geltung. Viele der „Großen“ waren königliche Hasardeure, die mit überlegener militärischer Macht ihre Nachbarn überfallen haben, mit dem Ziel Land an sich zu reißen. Ob sie diesen Titel zu Recht verdient haben, mag der Leser selbst entscheiden. Aber im Fall des Königs Kazimierz kann man durchaus eine positive Beurteilung abgeben. In einer Zeit, in der bei bestehenden oder herbeigeredeten Konflikten schnell „zum Schwert gegriffen wurde“, war Kazimierz eine wirkliche Ausnahme-erscheinung.

 

Auch er hat Kriege geführt, aber seine wirklichen Mittel waren Diplomatie gegenüber den militärisch mächtigeren Nachbarn und vor allem der innere Landesausbau (Landesvertei-digung durch den Bau von Burgen an strategisch wichtigen Pässen, Städtepolitik und Erschließung des weiten Landes durch überregionale Wege und vor allem schuf er einheitliches, geschriebenes Recht). Als Realpolitiker verzichtete Kazimierz auf Ansprüche, die nicht mehr zu halten waren und erreichte mit Ungarn und Litauen eine Beendigung des latenten Kriegszustandes. Zudem dehnte er das Land, das nun Polen war, weit in das Gebiet der heutigen Ukraine aus.

 

Kazimierz hat auch das nach den Zerstörungen durch die Mongoleneinfälle danieder liegende Sandomierz wieder aufgebaut, davon künden bis heute die Gebäude der Stadt. Das auffälligste bauliche Zeugnis aus seiner Zeit ist das Schloss, das auf dem südlichen, durch eine Geländeeinbuchtung vom eigentlichen Stadtgebiet getrennten Hügel, das Ufer der Weichsel überragend, errichtet wurde. In seine Zeit fällt auch der zweite, gotische Bau der Kathedrale und der des Rathauses. Und davon ausgehend konnte sich die Stadt durch Handel und Industrie in die Reihe der angesehensten Städte Polens wieder emporschwingen.

 

Die institutionellen Grundlagen der zweiten polnischen Monarchie

 

1320 kann als das Jahr des Beginns der zweiten polnischen Monarchie, die bis zur dritten polnischen Teilung 1794 Bestand hatte, bezeichnet werden. Bevor auf ihre Entwicklung und darin eingebettet das Schicksal Sandomierzs wie der anderen Städte eingegangen wird, ist es notwendig ihre innere Verfasstheit zu betrachten.

 

In den zurückliegenden Jahrhunderten war Polen nicht nur durch die vier Teilfürstentümer politisch regionalisiert worden, sondern in einem stetigen Prozess feudalisiert worden. So zum Einen durch die Aufteilung der piastischen Herzogtümer durch Erbteilung (entsprechend der Zahl der männlichen Nachkommen) und zum Andern - und dies mit noch weitreichenderen Auswirkungen - die faktische Verselbständigung der Magnaten (die adligen Großgrund-besitzer) und des übrigen landbesitzenden, niederen Adels (die Szlachta).

 

Es würde wiederum zu weit führen jede Etappe dieses Vorgangs nachzuzeichnen. Im Wesentlichen war er Mitte des 16. Jahrhunderts mit den folgenden Ergebnissen abgeschlossen: Die Monarchie war durch zunehmenden Verlust ihrer monarchischen Vorrechte zu einem nicht mehr gesetzgebenden, sondern exekutiven Träger der Staatlichkeit geworden, dies ganz im Gegensatz zu der Entwicklung im westlichen Europa hin zum absolutistischen Königtum. Die Gesetzgebung lag in den Händen des Senats, der Vertretung der Kirche und der Magnaten und vor allem bei der Versammlung der kleinadligen Landstände, dem Sejm. Folgerichtig spricht man von einer Adelsrepublik.

 

Auf der einen Seite ist die Modernität dieses frühen polnischen Wegs zu demokratischen Verhältnissen zu sehen. Auf der anderen Seite liegen aber auch die Defizite auf der Hand. So wurden die Städte als Träger wirtschaftlicher Entwicklung nicht in die Politik eingebunden mit der Folge, dass die Interessen der Landeigentümer bestimmend waren. Im Sejm wurde zudem nach dem Prinzip des Vetorechts jedes einzelnen Mitglieds abgestimmt (kodifiziert als liberum veto im Jahr 1572) und damit diesem wichtigsten Organ jede Entscheidungsfähigkeit über Reformen genommen, da ja eine Mehrheitsentscheidung verhindert war. Das Ergebnis war, dass sich innerhalb des polnischen Staates ständig Konföderationen bildeten, die auch im Konflikt zum Gesamtstaat ihre Interessen durchzusetzen versuchten.

 

Die Unfähigkeit, Reformen des Rechts-, Sozial- und Wirtschaftslebens durchzusetzen, hat schwerwiegende, negative Auswirkungen für das Land heraufbeschworen und dies umso mehr, weil sich an den Grenzen militärisch mächtige wie auf Landgewinn begehrliche Monarchien (Habsburg, Brandenburg-Preußen, Schweden, das Osmanische Reich und Russland) entwickelten. Den „Luxus“ des liberum veto und der strukturellen Ohnmacht der Städte hat sich Polen bis zur Verfassung von 1792 geleistet - also erst nach Gebietsabtretungen an die genannten Staaten und erst kurz vor dem endgültigen Erlöschen einer eigenen Staatlichkeit 1794, die bis zum Ende des ersten Weltkriegs andauern sollte.

 

Die Stellung der Städte und deren politische Ohnmacht

 

Diese zeitlich weit vorausgreifenden Erläuterungen waren notwendig, um auf deren Grundlage das Schicksal des städtischen Bürgertums, der Rolle des Handels und des Gewerbes in Polen zu behandeln, im Fall Sandomierzs des „bürgerlichen Teils“ der Stadt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Sandomierz über einen sehr großen Marktplatz verfügt. Dies könnte zum Einen auf das lokale Marktgeschehen in einer sehr fruchtbaren Gegend, zum andern auf eine bedeutende Rolle im Fernhandel zurückzuführen sein.

 

Der Aufstieg der Städte zur wirtschaftlichen Macht und zum dritten (politischen) Stand beginnt im nordalpinen Europa im 12. und 13. Jahrhundert und führte schnell zu einer Blüte mit weitreichenden Handelsnetzen. Es handelte sich um eine zweite Urbarmachung als Folge technologischer und demographischer Entwicklungen. Der Handel erstreckte sich auf Massengüter (Nahrungsmittel, Bekleidung, Salz und Mineralien) wie auf Luxusgüter, deren Bedeutung aber quantitativ unerheblich war. Der Aufstieg der Städte und das Wachstums des Handels auf polnischem Gebiet vollzog sich zu einem erheblichen Anteil durch von den piastischen Herzögen geförderte Zuwanderung in das dünn besiedelte und durch die Mongoleneinfälle noch mehr geschwächte Land. So geschah es auch in Sandomierz.

 

Der Blick auf die physische wie politische Landkarte macht aber deutlich, dass die Stadt nur in einem geringeren Umfang in die überregionalen Handelswege eingebunden werden konnte. Die wichtigsten Städte waren Krakau, Breslau, Posen und Danzig, die - sei es durch ihre politische Rolle und ihre günstige Lage zu den europäischen Pforten (Böhmische Pforte bzw. zur Ostsee) - den Hauptteil des Nord- Südhandels an sich ziehen konnten. So wurden die Oder mit Breslau und nicht die Weichsel zur mittelalterlichen Handelsader erster Ordnung. Auch der Ost- Westhandel war von Breslau bestimmt und ging über Lublin in das überaus fruchtbare Gebiet der heutigen Ukraine. Sandomierz lag gewissermaßen in der Wirtschafts-geographie im Windschatten des Pfeffergebirges, konnte somit kein Knotenpunkt des Ost- Westhandels werden. Gleichwohl verlief ein Handelsweg - wenn auch nur von zweiter Bedeutung - entlang der Weichsel von Krakau nach Lublin, der Sandomierz einbezog. Davon und von der Eigenproduktion des fruchtbaren Umlands verdankt Sandomierz seine Stellung als mittelalterlicher Handelsplatz. Die Gebäude und der Umfang des bürgerlichen Teils der alten Stadt zeugen davon bis heute.

 

Ein weiteres kam hinzu: Indem Polen ein durch sein besonderes politisches System „städtefeindlich“ und kaum reformbereit war, blieb das Land wirtschaftlich auf den Durchgangshandel beschränkt, die Vorteile des Fernhandels für das lokale Gewerbe und den profitträchtigen Zwischenhandel (das Stapeln von Handelsgütern und die Bedeutung der städtischen Märkte) kamen Städte wie Breslau und Danzig zugute, die aber nicht innerhalb des politischen Polens lagen. Erst seit dem 19. und 20. Jahrhundert ist Polen auf dem Weg zu einer gewerblich-industriellen Ausrichtung (in den 20. Jahren sollte Sandomierz zu einem industriellen Zentrum entwickelt werden, diese Pläne verhinderte der zweite Weltkrieg, eine gewisse Industrialisierung folgte dann in der Zeit der Volksdemokratie).

 

Polen und Sandomierz nach Kazimierz im Überblick

 

Kazimierz starb 1370 und danach kam es zu einem Wendepunkt der polnischen Geschichte. Kazimierz hinterließ keine Erben und daher war nach seinem Tod die Erbfolge zu klären. Im Verständnis des Seniorats wäre eine Nebenlinie der piastischen Dynastie (in Schlesien) in Frage gekommen, aber dies geschah wegen der faktischen Absonderung der schlesischen Seitenlinie nicht. Vielmehr kam es zu einer Erbfolge innerhalb der unmittelbaren Verwandtschaft Kazimiers. An erster Stelle erbberechtigt war der Sohn Ludwig seiner Schwester Elisabeth, die mit dem König von Ungarn, aus der Dynastie Capet - Anjou, einer Seitenlinie der französischen Könige, verheiratet war. Es entstand somit eine Personalunion Polen / Ungarn, die jedoch eine Episode blieb, denn auch Ludwig hinterließ „nur“ zwei Töchter, Maria und Jadwiga (Hedwig) und damit stellte sich die Frage einer Sukzessionslösung nach wenigen Jahren erneut. Im Ergebnis kam es - auf Druck des polnischen Adels, der damit eine weitere Privilegierung (Leibeigenschaft der Bauern, Steuerfreiheit) erreichte - zur Verheiratung der zweiten Tochter mit dem litauischen Großfürsten Jagiello nach dessen Übertritt zum Christentum. Damit begann die Zeit der jagellonischen Könige, die bis 1572 dauern sollte. Bemerkenswert war dieser Vorgang deshalb, weil er schon sehr deutlich die starke Stellung der hohen Kirchlichkeit, des polnischen Senats (der Vertretung der Fürsten) und des Landstände (des Landadels der Szlata) zu dieser Zeit belegt.

 

Nach Kazimierz begann somit eine neue Epoche der Geschichte Polens, dem Zeitalter des territorialen Zusammenschluss der Polen und der Litauer, die in voller Staatlichkeit aber erst durch die Union von Lublin 1569 verwirklicht wurde. Die Merkmale dieses Staatenverbundes waren Erbfolge innerhalb der jagellonischen Monarchie und ein großräumiger Staat, der gegenüber konkurrierenden Ansprüchen benachbarter Staaten widerstandsfähig war, ja selbst als Ansprüche erhebender Staat in den immer währenden Streit um „Land und Leute“ auftrat (vor allem gegenüber dem Ritterordensstaat in Preußen). Die Zeit der beiden letzten jagellonischen Könige wird als ein goldenes Zeitalter dieses Staatenverbundes, dessen kulturelle und bauliche Zeugen sich vor allem in Krakau bewundern lassen, bezeichnet.

Nach den Jagellonen (1572) wurde Polen auf Grund der inneren Interessenskonflikte im Senat und im Sejm zur Wahlmonarchie umgewandelt und zwar in der Form, dass landesfremde Fürsten, den schwedischen Wasa (bis 1668) und danach dem sächsischen Kurfürsten, die polnische Königswürde erhielten. Damit brachte sich die uneinige politische Klasse Polens in eine höchst gefährliche Abhängigkeit von den Interessen landfremder Dynastien. Dies zeigte sich für Sandromierz am schlimmsten dadurch, dass die Stadt 1655 zum dritten Mal zerstört wurde. Der Grund dafür war, dass ein Wasa als polnischer König auch Anwärter auf die schwedische Krone war und in diesem Konflikt innerhalb der Wasa-Dynastie Truppen des Konkurrenten in Polen zerstörerisch einfielen. Das „Wahrzeichen“ ist bis heute das auf ein Drittel des ursprünglichen Umfangs reduzierte Schlossgebäude.

 

Im nordischen Krieg des 18. Jahrhunderts wurde Polen zum Tummelplatz ausländischer Mächte, sowohl Schwedens, Russlands, Brandenburg-Preußens und Habsburgs, die zum Teil durch Kriegszüge (Karl XII., Peter der Große) oder schon durch deren Androhung (Katharina die Große) „regierten“ und schließlich 1794 das Land völlig unter sich aufteilten. Die endgültige Grenzziehung erfolgte durch den Wiener Kongress 1815. Sandomierz - die Stadt, die bisher immer in der geographischen Mitte Polens lag - war nun Grenzstadt zwischen dem russischen Kongresspolen und dem habsburgischen Königreich Galizien. Dies konnte und hat auch nur Stagnation bewirkt. Auch in den Ausbau des Eisenbahnnetzes noch in russischer Zeit blieb Sandomierz wegen seiner Grenzlage unberücksichtigt, dies bis heute. Erst 1919 entstand Polens Staatlichkeit als ein Akt der politischen Gerechtigkeit neu.

 

Für eine kleine Stadt hat Sandomierz neben der Kathedralkirche eine große Zahl von kirchlichen Gebäuden, darunter zwei Klöster. Polen hat nicht die erbitterten wie blutigen Religionskriege wie in Frankreich, Deutschland und England erlebt. Dies war auf die Toleranzedikte der Wasakönige zurückzuführen, sowohl gegenüber der calvinistischen wie lutherischen Richtung. Es wurde daher im 16. Jahrhundert Aufnahmeland für aus ihren Heimatländern vertriebene Protestanten. Als der Druck sich später gegen die Protestanten verstärkte, kam es in Sandomierz zu einer Versammlung, die eine unter dem Namen Consensus Sandomiriensis bekannte Bundesakte zur Folge hatte. Gleichwohl war die Gegenreformation, aber unblutig, erfolgreich.

 

Man sieht, das alte Wort „Glücklich sind nur die Völker, Landschaften und Siedlungen, die keine Geschichte haben“ gilt auch für Sandomierz und noch mehr für Polen als Ganzes.

Mit den Augen eines frühmittelalterlichen Siedlerstammes, eines mittelalterlichen Landesherrn oder eines frühbürgerlichen Kaufmanns erkennt man sofort die unterschiedlichen Vorteile der Stadt, die sich aus ihrer Lage ergeben: das fruchtbare Land ringsum, die Verteidigungsfähigkeit durch die Topographie und die den Handel begünstigende Lage an der Weichsel und des Flusses San, der von Südosten aus dem alten Galizien herkommt. Die Stadt kann heute wie ein Puzzle begriffen werden. Es gilt die Stadt als Ganzes, ihre Gebäude, deren Entstehungsgeschichte und schließlich die Kulturlandschaft um sie herum in ihrer geschichtlichen Bedeutung für die Region, für Polen wie für das östliche Mitteleuropa zu begreifen, um mit diesen einzelnen Kenntnissen das heutige Sandomierz zu würdigen.

In Meyers Konversationslexikon, der berühmte „Meyer“ der Ausgabe von 1885 heißt es: . „S., Kreisstadt im polnisch-russischen Gouvernement Radom, an der Weichsel, hat ein altes Schloss auf steilem Felsen, ein Gymnasium, 2 Zuckerfabriken und (1885) 5905 Einwohner. ... Ferner ward hier 1702 eine Konföderation der Anhänger des Königs August gegen den vom schwedischen König Karl XII. durchgesetzten Gegenkönig geschlossen.(Durch diese Episode ist Sandomierz übrigens in die Schrift Voltaires „Das Leben Karls XII.“ geraten). Und: 1809 gab es unter den Mauern Sandomirs ein heißes Gefecht zwischen Österreichern und Polen“.

 

Vieles hat sich bis heute offensichtlich verändert, Sandomierz ist nun eine Stadt in einem eigenständigen und gesicherten Polen und in der Europäischen Union, sie kann auf ein Bündel von Pfründen und Schönheiten stolz sein, und sie ist - und dies kann ich nur aus eigener Anschauung empfehlen - ein Besuchsziel, das dem Besucher gefällt, ihn neugierig macht auf ihre Historie und ihn mit dem Gefühl zurücklässt, das unser Europa in allen seinen Gebieten - auch in den weniger bekannten, oder gerade dort - immer eine Überraschung bereithält.

 

Die Bildleiste am oberen Rand zeigt die Innenstadt.

 

Erschienen ist der Artikel in der  Zeitschrift "Stadt und Gemeinde" 12 / 2008

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© Rolf Derenbach

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