Wie schöne Städte entstanden sind Schöne Landschaften und ihre Geschichte
Wie schöne Städte entstanden sindSchöne Landschaften und ihre Geschichte

 

Das Philanthropin in Schnepfenthal - Aufklärung und Bildung als gesellschaftliche Therapie

 

Es gibt in Deutschland viele Orte, in denen zu ihrer Zeit wichtiges geschehen ist, die heute aber etwas im Winkel gelegen sind; sei es im geografischen Sinn oder sei es dass die Entwicklungslinien, die von ihnen ausgegangen sind, zu Unrecht vergessen sind. Es macht das Wesen einer Kulturlandschaft aus, das es neben den bekannten Städten auch diese Orte gibt, dass man auch im eigenen Land auf Entdeckungsreise auf Unbekanntes gehen kann. Zu diesen Orten gehört Schnepfenthal, nicht weit entfernt von Gotha an den östlichen Ausläufern des thüringischen Waldes gelegen. Von Mühlhausen aus verläuft die Reise durch den südwestlichen Teil des Thüringer Beckens noch über Gotha, der ehemaligen Residenz des westlichsten der Thüringer Staaten hinaus in die Vorberge des Thüringer Waldes.

 

Der belustigende Name Schnepfenthal ist keineswegs ironisch gemeint, es ist eine wirklich schöne naturräumliche Lage, in denen offenbar die Schnepfen genannten Vögel, die Moore und Sümpfe als Lebensraum bevorzugen, sich wohlfühlten oder wenigstens der Landesherr, der sie dort jagte. Alles, was eine Landschaft schön macht, ist dort vorhanden: eine hügelige Topographie vor der Kulisse des Thüringer Waldes, ein gewundenes, engeres Tal, das sich an der Stelle, über die nun zu berichten ist, in eine weite Talaue mit Teichen und Wiesen öffnet.

 

Die Salzmannschule als aufklärerisches Reformprojekt

 

Dort liegt auf einem Geländevorsprung eine Gruppe von Gebäuden, in ihrer Mitte ein langgestreckter Bau, zweigeschossig mit einem Mansarddach, in der Mitte seltsam-erweise ein Turm mit einer ungewöhnlich hohen Helmspitze, das Ganze in einer Architektur, die barocke (Symmetrie, Dachgestaltung) und klassizistische Bauformen (einfache Fensterfassade, schlichter Fassadenschmuck) vereinigt.

 

Dieses Gebäude stammt aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um die von Christoph Gotthilf Salzmann 1784 mit Hilfe des Gothaer Herzogs Ernst II gegründete, zunächst noch sehr bescheidene "Erziehungsanstalt Schnepfenthal", wobei man jedoch sogleich hinzufügen muss, dass der heute nicht sehr angenehm klingende Begriff "Erziehungs-anstalt" täuscht, heute würde man sagen, dass es sich um eine Reformschule, um ein ambitioniertes pädagogisches Projekt handelt.

 

Das trifft in vollem Umfang zu. Die Schule in Schnepfenthal ist eine aus dem humanistischen Geist der Aufklärungszeit entstandene Nachfolgegründung des von Johann Bernhard Basedow 1774 gegründeten "Philanthropin" in Dessau. Es ist Basedows Verdienst, zum ersten Mal in Deutschland Fragen der Kinder- und Jugenderziehung in das öffentliche Bewusstsein gerückt zu haben. Seine Dessauer Reformanstalt orientierte sich an englischen Vorbildern und an den Ideen des "Zurück zur Natur" von Rousseau (1712 - 1784). Die Reformpädagogik des 18. Jahrhunderts ging nicht mehr wie die christliche Tradition, die unterstellte, dass die menschliche Natur seit dem Sündenfall grundsätzlich korrupt sei, von einem pessimistischen Menschenbild aus. Man verehrte - wie Anthony Earl of Shaftsbury gelehrt hatte - die Natur und meinte, dass sowohl das Empfindungsvermögen für das Schöne und Gute von Natur angelegt und zugleich Grundlage des Erkenntnisvermögens seien. Vernunft und Leidenschaften - bis dahin als Gegensätze betrachtet - wurden nun als harmonisch vereinbar gedacht. "Natur" wurde zum Schlüsselbegriff des Zeitalters, für die Pädagogik wurden der Trieb zur natürlichen Selbstliebe und der Geselligkeitstrieb zum Ausgangspunkt ihrer Konzepte. Man wollte den jungen Menschen ermöglichen, sich "naturgemäß" zum erwachsenen und glücklichen Menschen auszubilden.

 

Es ging Basedow um gut ausgearbeitete Lehrpläne, moderne Unterrichtsmaterialien und um eine ständige Lehrerausbildung. Wissen sollte nicht mehr durch Auswendiglernen erworben, sondern durch Appell an die Geistes- und Sinneskräfte der Schüler, die nicht mehr als noch unfertige Kopie der Erwachsenen betrachtet wurden, gemäß ihrem altersspezifischen Entwicklungsstand durch ein spielerisches und praxisnahes Heran-gehen vermittelt werden. Wanderungen, sportliche Übungen und handwerkliche Tätigkeiten gehörten ebenso zum Schulalltag wie die klassischen Unterrichtsfächer. Allerdings musste Basedow, der in den Berichten der Zeit als herrschsüchtig bezeichnet wird, schon 1778 die Direktion abgeben, 1793 wurde das Philanthropin in Dessau geschlossen. Die Schule in Dessau blieb eine pädagogische Episode.

 

Schnepfenthal war aber von vornherein mehr als eine Kopie der Anstalt in Dessau. Die Schule ist von kleinsten Anfängen mit 6 Schülern von ihrem Gründer Salzmann, seiner Umsicht, seinem ausgearbeiteten Konzept, der Attraktivität des Lehrplans und auch von der Festigkeit ihrer wirtschaftlichen Existenzbedingungen auf eine gute Grundlage gestellt worden, sie ist bis heute ununterbrochen Schule und viele Jahrzehnte über Salzmann hinaus pädagogische Vorreiterschule geblieben - vielleicht auch deshalb, weil sie mehr als hundert Jahre als Familienbetrieb geführt wurde.

 

Salzmann, 1744 in Sömmerda geboren, war evangelischer Theologe, nach dem Studium und ersten Kirchenämtern wurde er 1772 als Pfarrer nach Erfurt berufen. Von dort aus ging er als Religionslehrer 1781 zu Basedow nach Dessau, man muss hinzufügen: wie mutig, denn er verließ eine ehrenhafte und sichere Position, um (in einem unsicheren und gefährdeten Projekt) seine Ziele als Pädagoge zu verfolgen! In dem Gothaer Herzog fand er wenige Jahre später einen fortschrittlich gesinnten Landesfürsten, der ihm die notwendigen materiellen Voraussetzungen verschaffte. Es war die Freimauerbewegung des 18. Jahrhunderts, die es überhaupt erst möglich gemacht hatte, dass sich nicht nur das Bürgertum, sondern auch Mitglieder der Hocharistokratie als reformerisch verstanden und bereit waren, einem Bürgerlichen ohne Vermögen, wie es Salzmann war, Mittel zur Umsetzung eigener Ideen zur Verfügung zu stellen.

 

Salzmann hatte seine pädagogischen Vorstellungen und die Konzeption des Schul-projektes in seiner Schrift "Noch etwas über die Erziehung nebst Ankündigung einer Erziehungsanstalt" (1784) sehr gut ausgearbeitet. Wenn man diese Schrift heute liest, ist man mehr als überrascht. Was später immer wieder als pädagogische Erleuchtung verkündet wurde, dort ist es bereits nachzulesen. Die Schrift, die die pädagogischen Ziele und Methoden erläutert und einen Lehrplan enthält, ist von einer zeitlosen Aktualität, von einer Frische und Klugheit der Gedankenführung. Das, was heute als kindgerecht bezeichnet wird, ist voll theoretisch und methodisch ausgearbeitet. Es ging ihm in erster Linie um Körper- und Gesundheitserziehung, dann um Nutzung der eigenen Kräfte der Schüler zur Selbstentwicklung, die Pflege der Sinne und schließlich um beispielhafte Anwendung des Erlernten in praktischer Tätigkeit. Die Wissensvermittlung sollte sich an den künftigen Berufen der Schüler orientieren, in diesem guten Sinn war Schnepfenthal auch als "Arbeitsschule" konzipiert. Aus der alten Paukanstalt für die höheren Stände sollte eine lebensorientierte Schulgemeinschaft werden. Dies sind alles Stichworte, die dann erst mehr als hundert Jahre später wieder aufgegriffen und als Neuheit propagiert wurden (Maria Montessori, Rudolf Steiner, Jenaschule, Karl Hahn). Hier sind dazu nur wenige Worte möglich, man sollte die Schrift von Salzmann lesen, um beeindruckt zu sein.

 

Salzmann hat seine Schule ursprünglich mit gerade 6 Schülern in einem alten Gutshaus in der Talaue (das heute noch besteht) begonnen. Der Unterricht wurde als Lehrer-Schüler-Gemeinschaft (die Schüler wurden in den Privaträumen der Lehrer unter-richtet) gestaltet. Dieses Prinzip wurde auch dann beibehalten, als die Schule wuchs und neue Lehrer hinzukamen. Schon wenige Jahre danach wurde der Bau der Schule auf der Anhöhe begonnen, später - als der Erfolg sich eingestellt hatte - mit einigen Metern Abstand eine genaue Kopie dieses Gebäudes. Erst später wurden die beiden Gebäude durch das bereits erwähnte Turmgebäude, dessen etwas seltsame Konzeption damit verstehbar wird, verbunden.

 

Salzmann war ein sehr der Natur verbundener Mensch, jedoch kein lebensfremder, ungeduldiger Idealist, der über seine Ideen die wirtschaftliche Seite vergaß. Dies zeigt sich in seinen eigenen Worten, aber vor allem auch in seiner, an den Bedürfnissen der Schule ausgerichteten Umgestaltung der Landschaft. Über die Jahre hinweg wurde der von ihm als schlecht bezeichnete Boden um die Schule verbessert, es wurde das Wasser einer entfernten Quelle herangeführt, nicht nur, um Wasser zu haben, sondern ihrer Wasserqualität wegen. Es wurden Schülergärten angelegt, es scheint, dass die Schule ihre Lebensmittel, Baumaterialien, Brennholz weitgehendst selbst erzeugte, es verbin-den sich darin nicht nur wirtschaftliche Gründe einer sich selbst verantwortenden Autarkie, sondern auch das Streben nach einem harmonischen Landschaftsgarten, der auch oder vor allem pädagogischen Zwecken dient. Salzmann spricht schon in seiner Schrift davon, dass er über ein weit schöneres Naturalienkabinett verfügte als alle Fürstenhöfe, nämlich die in Kulturlandschaft umgewandelte und gesteigerte Natur in der von ihm, den Lehrern und Schülern gestalteten Nachbarschaft.

 

Einer der Schüler, nämlich Carl Ritter, sollte der Begründer einer bis heute viel bewun-derten romantischen Geographie werden, er blieb - obwohl später in ganz Europa bekannter Professor in Berlin - immer mit der Schule verbunden. Am Rande sei vermerkt, dass in Wilhelm Raabe´s See- und Mordgeschichte "Stopfkuchen" Carl Ritter bei der Beschreibung eines Schulraums und seiner Ausstattung als der "alte Karl Ritter" erwähnt wird. Als Schüler Schnepfenthals war er sehr gut darauf vorbereitet, auch ein guter Schulgeograph zu werden.

 

Wie gesagt, Gesundheits- oder Körpererziehung standen mit an vorderster Stelle des Salzmannschen Plans für die Erziehung in Schnepfenthal. Entsprechend der alten Weisheit, dass es wünschenswert ist, dass ein guter Geist in einem gesunden Körper wohnt, wurde in Schnepfenthal "Sport" (den Begriff gab es damals natürlich noch nicht) zu einem pädagogischen Schwerpunkt. Hier kommt nun die zweite Persönlichkeit ins Spiel, mit der der Name Schnepfenthals für immer verbunden bleiben wird: Johann Christoph Friedrich GuthsMuths, der noch unter Salzmann als junger Lehrer nach Schnepfenthal kam und dort bis zu seinem Lebensende arbeitete. Sein Name ist gewissermaßen Programm: Mit gutem Mut, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und großer Beständigkeit entwickelte er als erster ein System der Leibeserziehung, das er in der Praxis erprobte und weiterentwickelte: Es ging ihm um Entwicklung der Geistes- und Körperkräfte, die sich wechselseitig bedingen und verstärken. GuthsMuths legte einen Gymnastikplatz an, der heute mit seinen Turngeräten und Klettergerüsten als Nachbildung auf einem der Schule gegenüberliegenden Geländevorsprung zu besich-tigen ist. Selbst Schwimmen im schuleigenen Teich stand auf dem Programm, für die damalige Zeit eine fast schockierende Neuerung.

 

Im Gegensatz zu der Schule in Dessau mit ihrer kurzen Lebenszeit besteht Schnepfen-thal bis heute. Über die Söhne und Enkel des Gründers wurde die Schule fortgeführt, gewissermaßen eine pädagogische Dynastie, zu denen auch die Lehrer, die jung nach Schnepfenthal kamen, gehörten. Spannungen, Auseinandersetzungen usw. scheint es in der Schulgemeinschaft nicht gegeben zu haben. Das gemeinsame Ziel und das Glück, eine Aufgabe zu haben, die ein gelingendes Leben ermöglicht, hatten Streit und Kleinlichkeit nicht aufkommen lassen. Auf dem kleinen Friedhof nicht weit von GuthMuths Gymnastikplatz entfernt, sind sie vereint: ein Ort unter hohen Bäumen, der sehr anrührend ist.

 

1784 - 2014!

 

230 Jahre besteht die Schule schon, das ist nun deutlich mehr als üblich. Glückwunsch!

 

Erschienen in der Zeitschrift "Der Landkreis" 5 / 2001

 

Besucht habe ich die Schule so etwa 1998, vielleicht auch früher, mit Heikki als Gast aus Finnland - wir waren beide sehr angetan. Ohne die Schrift "Salzmannschule Schnepfenthal 1784 - 1984" der Gothaer Museumshefte, Abhandlungen und Berichte zur Regionalgeschichte (1984) wäre dieser Artikel nicht möglich gewesen.

 

Als ich den fertigen Artikel dann der Schule zuschickte, erhielt ich keine Antwort, das war einigermaßen bitter - aber damit muss man heute leben. Warum waren die wenigen Zeilen "Wir haben uns gefreut, dass Sie ..." nicht möglich?

 

Einen Bericht wie diesen - sei er gelungen oder nicht - hat viel Arbeit (Recherche, Ordnung der Ergebnisse, Einordnung und dann die mühevolle Ausarbeitung der Sätze und Satzfolgen) gemacht und man erntet Schweigen. Wenn wir uns so gegenseitig verhalten, dann wird die Welt ziemlich trübe.

 

In meiner Sammlung "schöne friedliche Orte" hat die Begräbnisstätte der Gründer-generation einen Ehrenplatz erhalten, gleich neben der der Lindower Stiftsdamen, deren Erscheinung und Lebensverhältnisse in Fontanes "Stechlin" unnachahmlich und so auf das elementar Menschliche verdichtet dargestellt werden. Kloster Wutz bei Fontane ist Kloster Lindow in concreto - machen Sie sich liebe Leserin, lieber Leser das Vergnügen mit Tante Adelheid und Fräulein von Mecklenburg und schlagen das erste Kapitel im Stechlin auf.

 

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© Rolf Derenbach

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